Biologismus, Sexuelle Orientierung und Gesellschaft

Heute morgen gab ich im Zuge einer Kommentardiskussion auf quantenwelts Beitrag zum gern Feminismen gegenüber verwendeten Strohmann „Gleichmacherei“ folgendes via Twitter von mir:

„Einerseits soziale Effekte möglichst ausblenden und andererseits für soziale Fragen relevant sein wollen. Biologismus.“

Christian Schmidt („Alles Evolution“), der dort ebenfalls kommentierte, bat mich darauf hin, mich doch mal zu äußern und zu argumentieren, wie ich die Entstehung von Geschlechtern oder sexueller Orientierung betrachte. Ich habe mich dann für das zweite, vermeintlich ‚leichte‘ Thema entschieden.

Zuallererst noch ein riesenfetter Disclaimer:
Ich bin kein Sexologe, kein Biologe, kein Psychologe, kein Soziologe, kein Queerologe (?) sondern in jeder Hinsicht auf all diesen Gebieten kaum mehr als ein interessierter Laie. Der Post hier dient also nicht zur Behauptung irgendwelcher Tatsachen, sondern soll lediglich meinen momentanen Eindruck  einer Debatte wiedergeben, welche mich bereits in ihrer Grundlage befremdet. Also wird es eher philosophisch / essayistisch. Ich lehne mich hiermit also so weit vom Fenster weg und verkrieche mich in der Besenkammer, freue mich aber sehr über erhellende Kommentare.

Da ich den Text zunächst auf Twitlonger verfasst und an Christian persönlich gerichtet habe und ich zum weiteren Editieren ehrlich gesagt ein bißchen zu faul bin, belasse ich hiermit den Charakter eines „offenen Briefes“. Und los geht’s.

***

Es mag sich vielleicht zunächst so angehört haben, als hielte ich sexuelle Orientierung nicht für ähnlich konstruiert wie Gender, weil ich das trenne – dem ist aber nicht so. Für mich sind es lediglich verschiedene (wenngleich benachbarte) Konstrukte, die kombiniert werden können („homosexueller Mann“, „heterosexuelle Frau“) aber nicht müssen.

Die Konstruktion besteht für mich in einer eindeutigen Zuordnung in ‚homosexuelle‘ oder ‚heterosexuelle‘ oder ‚bisexuelle‘ Typen. Für mich aber gelten da allenfalls operative Definitionen von beobachtbarem Verhalten: Ein Mann, der größtenteils mit Männern schläft, verhält sich also größtenteils homosexuell.

Problematisch sind bei diesen Konstrukten auch die vielen Abstufungen: Was, wenn Männer oder Frauen kein Problem darin sehen, mit anderen Männern oder Frauen Zärtlichkeiten oder Küsse auszutauschen, von einem Beischlaf aber eher Abstand nehmen? Wie ist das dann einzuordnen?

Über eine ‚innere Orientierung‘ und ihren biologischen oder sozialen Ursprung sind mir da bestenfalls Spekulationen möglich, und das kann aus meiner Sicht je nach Individuum sehr verschieden sein. Ich halte hier (als ziemlicher Laie) sowohl biologische als auch soziale Faktoren für potentiell sehr einflussreich – aber wie ich dir schon einmal schrieb: Für mich gibt es da keine klar markierte Front („bis hierhin ist alles Biologie, danach fängt Soziales an“), sondern eine Gleichung mit jeweils verschieden gewichtbaren Faktoren und vor allem Überlappungen. Für mich ist also durchaus denkbar, dass jemand ganz ohne die angenommene biologische Disposition homosexuelles Verhalten zeigt und genießt als auch dass jemand *mit* dieser Disposition ausschließlich hetereosexuell unterwegs ist. Einen allgemeinverbindlichen Algorithmus wie „Biologische Homosexualität geteilt durch Soziale Akzeptanz mal Persönliches Bewusstsein = Operativer Homosexualitätsquotient“ kann ich dir an dieser Stelle aber sicher nicht liefern.

Insgesamt ist mein Eindruck, dass gerade die Sexualität der Menschen kulturell und kognitiv derart stark überformt, codifiziert und diversifiziert ist, dass sowohl bei homo- als auch hetereosexuellen Verhalten kaum noch eine Aussage darüber möglich scheint, welches Verhalten nun „rein biologischen“ Ursprungs ist (mal abgesehen von z.B. körperlichen Erregungszuständen, welche aber wiederum sehr stark an das gekoppelt sind, was als sexuell besonders erregend empfunden wird, angeborener- oder erworbenermaßen). Meine Haltung ist da auch eher eine pragmatische: Wenn’s Spaß macht, isses im Prinzip egal ob es jeweils nun eher ‚in den Genen liegt‘ oder die Lust am Tun erworben wurde. Entsprechend gibt es für mich keine ‚Abweichung von der Natur‘.

Was sich jedoch m.E. gut festhalten lässt, ist, dass verschiedene Gesellschaften verschiedene ‚öffentliche‘ Einstellungen zu Homosexualität und -erotik haben, was sich entsprechend auf die Wahrnehmung und Häufung homosexueller ‚Performance‘ auswirkt. Und ich bin recht überzeugt davon, dass durch ein Wegfallen klarer Verhaltensschubladen und Identitätsvorstellungen von ’schwul‘, ‚lesbisch‘ und ‚bi‘ das Sexualverhalten insgesamt etwas an Vielfalt gewinnen würde. Andererseits erwarte ich natürlich keineswegs, dass in so einem Fall alle Menschen 50:50 bisexuell unterwegs wären – sondern lediglich eine insgesamt entspanntere Einstellung zu dem Thema und entsprechend weniger Hemmungen, die bisher klar abgegrenzten Bereiche je nach Gelegenheit zu erschließen. Und vor allem: weniger Feindseligkeit oder gewaltsam geäußerte Angst gegenüber dem ‚perversen‘ Verhalten anderer. Wie ich schon mal irgendwo in deinem Blog schrieb: Rein biologische Betrachtungen zu einem Sachverhalt können keinen moralischen Imperativ bilden, wie es grundsätzlich zu bewerten und damit umzugehen ist. Nur weil etwas angeboren ist, wird es nicht automatisch ‚akzeptabler‘ – dann wird es im Zweifelsfall eben als Geburtsfehler betrachtet, was zu noch hässlicheren Reaktionen als „Heilungsversuchen“ führen kann.

Mir fiel übrigens heute noch ein nettes Gedankenbeispiel zur Problematik des Biologismus in Gesellschaftsfragen ein:
Zweifellos lässt sich sagen (soweit mir bekannt), dass Pheromone, Hormone und einander ergänzende Immunsysteme einen gewissen Einfluss darauf haben können, wie sexuell attraktiv Menschen aufeinander wirken. Aber ist das allein ein zuverlässiger Indikator dafür, ob gemeinsame Beziehungen zwischen Menschen langfristig funktionieren? Ist davon auszugehen, dass die Mehrzahl aller glücklichen, langen Beziehungen von Menschen geführt wurden, die biochemisch besonders kompatibel waren (und es auch blieben – dass so etwas mit der Zeit ‚umkippen‘ kann, ist ja anscheinend auch belegt)? Oder ist da nicht doch eher die durch das jeweilige soziale Umfeld geprägte Wahrnehmung voneinander, das kommunikative Verhalten miteinander und eine Menge anderer Faktoren entscheidend? Es sind einfach verschiedene Fragen, welche jedoch oft durcheinandergeworfen werden, wie ich finde. Und recht ähnlich sieht es für mich mit biologischen Geschlechtsmerkmalen und den Konstruktionen von „geschlechtergerechtem Verhalten“ aus.

***

So, das war’s. Nu haut mich getrost in die Pfanne! Anmerkung noch: Der hauptsächliche Fokus des Textes ist für mich auf jeden Fall die grundsätzliche Frage, inwieweit Biologie gesellschaftliche Fragen auf relevante Weise beantworten kann. Falls ich jedoch im speziellen Blick auf sexuelle Orientierung nach euer Meinung grobes Unwissen und gefährliche Fehlurteile an den Tag lege, bitte ich sehr um Korrektur. Das wiederum soll kein Blankoscheck gegenüber homophoben Äußerungen sein – die werden von mir nicht freigeschaltet, auch nicht zu q.e.d.-Zwecken.

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56 Antworten zu Biologismus, Sexuelle Orientierung und Gesellschaft

  1. Stephan Fleischhauer schreibt:

    Es ging ja – im Verlauf der Twitter-Diskussion – um die Frage, wodurch überhaupt Genderverhalten und sexuelle Orientierung verursacht wird.

    Deshalb folgende Anmerkungen zum Blog-Artikel:

    Zunächst einmal sagst du, dass dir bzgl. der biologischen oder sozialen Ursprünge „bestenfalls Spekulationen möglich“ sind. Du machst da aber durchaus deutliche Unterscheidungen, so schreibst du zum sozialen Bereich:

    „Insgesamt ist mein Eindruck, dass gerade die Sexualität der Menschen kulturell und kognitiv derart stark überformt, codifiziert und diversifiziert ist“

    „Für mich ist also durchaus denkbar, dass jemand ganz ohne die angenommene biologische Disposition homosexuelles Verhalten zeigt“ [was einen starken Einfluss des Sozialen bedingt]

    Woher nimmst du diese Sicherheit? Könnte es nicht genau anders herum sein – dass die Biologie des Menschen seine Kultur extrem geformt hat? Dass trotz starker gesellschaftlicher Ablehnung sich homosexuelles Verhalten ausprägt, aufgrund biologischer Vorgänge? Was spricht dagegen?

    Bei den biologischen Ursprüngen bist du weniger sicher:

    „Zweifellos lässt sich sagen (soweit mir bekannt), dass Pheromone, Hormone und einander ergänzende Immunsysteme einen gewissen Einfluss darauf haben können, wie sexuell attraktiv Menschen aufeinander wirken. Aber ist das allein ein zuverlässiger Indikator dafür, ob gemeinsame Beziehungen zwischen Menschen langfristig funktionieren?“

    Dein Argumentation geht in Richtung Langfristigkeit und Erfülltsein des Sexuallebens. Meines Erachtens ist das ein Schritt zu früh. Zunächst einmal soll ja sämtliches Genderverhalten untersucht werden. Dazu gehören natürlich auch kuzfristige, unerfüllte Liebschaften. Es geht zunächst um das tatsächlich vorhandene, nicht das wünschenswerte Verhalten. Und welche Rolle Biologie und Kultur in dieser gesamten Bandbreite spielen.

    Noch eine Anmerkung. Du schreibst:

    „Was sich jedoch m.E. gut festhalten lässt, ist, dass verschiedene Gesellschaften verschiedene ‚öffentliche‘ Einstellungen zu Homosexualität und -erotik haben, was sich entsprechend auf die Wahrnehmung und Häufung homosexueller ‚Performance‘ auswirkt.“

    Bist du sicher, dass das kulturelle Umfeld einen Einfluss auf die Prävalenz von Homosexualität hat? Meines Erachtens ist das nicht der Fall.

    Gruß, Stephan

    • endolex schreibt:

      „Könnte es nicht genau anders herum sein – dass die Biologie des Menschen seine Kultur extrem geformt hat?“

      Dagegen spricht aus meiner Sicht die sich sehr stark nach jeweiliger Gesellschaft und Epoche unterscheidenden Vorstellungen darüber, was als „normales“ oder „abweichendes“ Verhalten gilt und wie damit umzugehen ist. Wenn die Biologie so „extreme“ Vorgaben macht, sind diese wohl gesellschaftlich betrachtet nicht sehr von Belang.

      „Dass trotz starker gesellschaftlicher Ablehnung sich homosexuelles Verhalten ausprägt, aufgrund biologischer Vorgänge? Was spricht dagegen?“

      Gar nichts. 🙂 Das würde ich als Ergänzung zu den von mir genannten ‚denkbaren Fällen‘ nehmen.

      (Über Pheromone und langfristig funktionierende Beziehungen):
      „Dein Argumentation geht in Richtung Langfristigkeit und Erfülltsein des Sexuallebens. Meines Erachtens ist das ein Schritt zu früh. Zunächst einmal soll ja sämtliches Genderverhalten untersucht werden. Dazu gehören natürlich auch kuzfristige, unerfüllte Liebschaften. Es geht zunächst um das tatsächlich vorhandene, nicht das wünschenswerte Verhalten. Und welche Rolle Biologie und Kultur in dieser gesamten Bandbreite spielen.“

      Meine Argumentation bei diesem Vergleich ist eine grundsätzliche: Lassen sich auf biologischen Grundlagen Annahmen darüber treffen, was langfristig für eine stabile und größtenteils zufriedene Gesellschaft am besten ist? Lässt sich also biologisch dagegen argumentieren, die täglich beobachtbare (und experimentell nachweisbare) Wirkung von Stereotypen, Vorurteilen und Diskriminierung zu kritisieren und zu überlegen, wie all dem am besten zu begegnen ist? Eine auf biologischen Grundlagen stattfindende Argumentation hierüber liefe eben, auf individuelle Ebene gezogen, darauf hinaus, vor allem anhand von Genetik und Hormonen zu entscheiden ob man das Verhalten von jemandem (oder die Person selbst) als ’normal‘ bzw. ’natürlich‘ bewerten sollte oder nicht. Und darum kann es aus meiner Sicht in gesellschaftlichen Fragen nicht gehen.

      „Bist du sicher, dass das kulturelle Umfeld einen Einfluss auf die Prävalenz von Homosexualität hat? Meines Erachtens ist das nicht der Fall.“ / „Okay, du schreibst “Häufung homosexueller Performance”, nicht “Prävalenz” – vielleicht hab ich da nicht verstanden, was du meinst.“

      Abgesehen davon, dass das Wort ‚Prävalenz‘ meines Wissens vor allem für als pathologisch angenommene Sachverhalte verwendet wird: Ich spreche nicht von der Häufigkeit der biologischen Disposition, sondern vom tatsächlichen Verhalten, das meine ich mit ‚Performance‘, ja.

  2. Stephan Fleischhauer schreibt:

    Okay, du schreibst „Häufung homosexueller Performance“, nicht „Prävalenz“ – vielleicht hab ich da nicht verstanden, was du meinst.

  3. Schön, dass du was geschrieben hast!

    Allerdings fehlt mir noch etwas zum konkreten Vorgang: Welche sozialen Vorgänge bewirken Homosexualität?
    Wann entsteht diese und warum wird es so stabil, wenn es ein sozialer Vorgang ist?

    Vielleicht stelle ich kurz die biologischen Theorien vor:
    Die biologischen Theorien gehen davon, aus, dass Männer und Frauen bestimmte Attraktivitätsmerkmale abgespeichert haben, die ihnen eine gute Partnerwahl erlauben und eine
    Beliebigkeit und ein Auseinanderdriften der Spezies verhindern. Solche Attraktivitätsmerkmale sind für Lebewesen sehr vorteilhaft, weil es ihnen effektiver erlaubt, ihre Gene gut weiterzugeben. Eines der Standbeine der Evolution, die sexuelle Selektion baut genau darauf auf. Sie geht davon aus, dass bestimmte Merkmale, die biologisch gute Eigenschaften betreffen, fest im Gehirn verankert sind und dadurch eben zB so etwas wie den Pfauenschwanz hervorgebracht haben. Es ist auch die wahrscheinlichste Erklärung für die Brüste der Frau, die ansonsten nicht so groß sein müßten.
    Männer und Frauen haben im Prinzip die gleichen Gene. Allerdings sorgt das Y-Chromosom dafür, dass der Mann Hoden hat, die dann wiederum Testosteron produzieren. Unter der Wirkung von Testosteron werden dann bestimmte Gene anders aktiviert und ausgeführt.Bei Frauen bilden sich Eierstöcke, die auch etwas Testosteron produzieren, aber hauptsächlich Östrogene.
    Auch im Gehirn haben wir viele Hormonrezeptoren, die eigentlich nur dann einen Sinn haben, wenn eben je nach Hormon andere Gene ausgeführt werden, wenn es also Geschlechtsunterschiede im Gehirn gibt.
    Hier geht man davon aus, dass es drei (teilweise auch vier) relevante Zonen gibt, die Sex Zone, die „Paarungs Zone“ und die Geschlechterrollenzone (auf Englisch Sex Centre, Mating Centre und Sex Role Centre). Alle werden einzelen zu bestimmten Zeiten, nach der Forschung im letzen Drittel der Schwangerschaft „formatiert“. Deswegen ist zu diesem Zeitpunkt der Testosteronstand bei Babies auch sehr hoch, er entspricht meine ich fast dem Stand der Pubertät und fällt erst nach der Geburt ab. Wäre auch ein Rätsel, wozu man diesen Anstieg braucht, biologisch gesehen muss er ja eine Funktion haben.
    Jetzt kann es sein, dass bestimmte Faktoren schiefgehen.
    Der Testosteronstand kann nicht hoch genug sein, weil die Hoden nicht oder noch nicht richtig funktionieren.
    Es kann etwas bei der Umwandlung an der Gehirn-Blut-Schranke schiefgehen
    Die Rezeptoren können sehr niedrig eingestellt sein
    Die Mutter, die einen Teil des Testosterons bereitstellt, kann hiervon zu wenig bereitstellen.
    Testosteronblocker können sich auswirken
    Die Grenzwerte können niedriger angesetzt sein.
    Etc

    Nach dieser Theorie würde also bei Mädchen, die zuviel Testosteron haben, die Wahrscheinlichkeit steigen, dass sie lesbisch sind
    Bei Jungen müsste mit weniger Testosteron (oder Testosteron das aus einem der oben genannten Gründen eine geringe Wirkung hat) die Chance steigen, dass sie schwul werden.

    Bei Säugetieren ist es der gleiche Mechanismus. Dort gelingt es über entsprechende Manipulationen bereits Homosexuelle Tiere zu erschaffen. Es spricht vieles dafür, dass dieser Mechanismus auch beim Menschen vorhanden ist (bei sonstigen Primaten ist es vorhanden).

    Beim Menschen sprechen folgende Konstellationen für das gleiche System:
    – CAH-Mädchen produzieren mehr Testosteron. Sie sind wesentlich häufiger homosexuell als Frauen ohne dieses Syndrom
    -CAIS Mädchen sind Genetisch Männer, allerdings erkennt ihr Körper kein Testosteron. Sie sehen daher aus wie Frauen und stehen auf Männer. Es gibt so gut wie keine lesbischen Frauen mit CAIS.
    – DES, (Diethylstilbestrol) ein Medikament, senkt den Testosteronspiegel. Wurde es schwangeren gegeben stieg die wahrscheinlichkeit, dass ihr Sohn als „Nebenwirkung“ schwul wurde
    – Schwule und Lesben zeigen auch ansonsten häufig Anzeichen eines niedrigeren oder höheren Testosteronspiegels, zB weiblichere bzw. männlichere Gesichter. Dies ist zu erwarten, weil präantales und postnatales Testosteron in einer gewissen Verbindung stehen können
    – Cloacal exstrophy: Die Personen haben normale Hoden, so dass sie pränatalen Testosteron ausgesetzt sind, aber keinen Penis. Wurde bei der notwendigen Operation eine Geschlechtsumwandlung zu einer Frau durchgeführt, dann haben viele trotzdem später männliches Verhalten und ein sexuelles Interesse an Frauen gezeigt.

    Weitere Faktoren, die für eine Biologische Festlegung sprechen, sind:
    – Zwillingsstudien zeigen, dass es eine höhere Übereinstimmung bei diesen gibt, wenn sie eineiig sind. Die Faktoren werden wie folgt angegeben:
    Eineiige Zwillinge: 48%
    Zweieige Zwillinge: 16%
    adoptierte Schwestern: 6%

    Dass auch eineiige Zwillinge Unterschiede aufweisen können, liegt eben daran, dass es auf die Hormonversorgung ankommt, die natürlich mit den Genen zusammenhängt, aber auch mit der Lage im Bauch und der Versorgung über die Plazenta etc.

    Zudem haben Männer mit älteren Brüdern, egal ob sie mit diesen aufwachsen oder nicht, eine höhere Chance Homosexuell zu werden (Fraternal Birth Order). Der dahinterstehende biologische Mechanismus ist noch nicht ganz klar, aber es scheint etwas mit biologische Reaktionen der Mutter zu tun zu haben. Da diese auch dann eintreten, wenn die Kinder zur Adoption freigegeben werden sind soziale Effekte unwahrscheinlich.

    Auch Kinder mit Gendervarianz werden weitaus häufiger Homosexuell

    Es würde auch erklären, warum eine Änderung zu einem späteren Zeitpunkt üblicherweise nicht erfolgen kann, selbst wenn sie für viele Homosexuelle vielleicht wegen Diskriminierungen das Leben leichter gemacht hätte.

    So, dass ist erst mal das, was mir gerade einfällt.

    Mir scheint, dass diese Faktoren in deinen Betrachtungen bisher keine Rolle gespielt haben. Es würde mich interessieren, wie du sie einbaust.

    • endolex schreibt:

      Hi Christian,

      all die von dir angeführten Theorien würde ich unter den von mir im Text genannten ‘biologischen Dispositionen’ zusammenfassen und erst mal auch an keiner Stelle anzweifeln (dazu fehlt mir ohnehin der biologische Hintergrund).

      “Welche sozialen Vorgänge bewirken Homosexualität?
      Wann entsteht diese und warum wird es so stabil, wenn es ein sozialer Vorgang ist?”

      Um das hier erst mal wie auch bei biologischem Geschlecht (“Sex”) und sozialem Geschlecht (“Gender”) klar zu trennen: Ich unterscheide die von dir beschriebene biologische Disposition und das tatsächliche Verhalten.
      “Homosexuell sein” ist also für mich erst mal kein klarer Begriff – was ist gemeint? Die biologische Bedingtheit oder die tatsächliche Praxis?
      Ich käme eher nicht auf die Idee zu sagen, dass soziale Bedingungen die biologische Bedingheit ändern – das wäre ungefähr so eine wenig brauchbare Theorie wie “Frauen kriege Bärte, wenn ihnen erlaubt wird, Sport zu machen”.
      Aber ich finde es gehört nicht viel dazu sich vorzustellen, wie auf soziale Weise homosexuelles *Verhalten* verhindert oder beeinträchtigt wird – dass viele Homosexuelle Familienväter sind, zeigt mir dass die biologische Disposition nicht streng über die Möglichkeit entscheidet, mit welchem Geschlecht sich sexuell eingelassen wird. Bezweifelst du, dass sich jemand, der sich seiner homosexuellen Neigung bewusst ist, völlig ‘immun’ ist gegen gesellschaftlich vorherrschende Vorstellungen darüber, ob das ‘richtig’ oder ‘krank’ ist und einfach macht, was er möchte? Das scheitert doch schon daran, dass von eben diese gesellschaftlichen Vorstellungen die persönlichen, gesetzlich verankerten Wahlfreiheiten abhängen – und da ist gesellschaftlich so vieles drin, von “Er wird für seine Perversion getötet, egal ob sie angeboren oder eine freiwillige Sünde ist” bis “Er kann, wenn er möchte, genau so heiraten wie heterosexuelle Menschen, das stört uns doch nicht die Bohne”. Auf diese Fragen und wie sie gesellschaftlich verhandelt werden kann Biologie nicht zielführend antworten, darum geht es mir.

      • Stephan Fleischhauer schreibt:

        Aber ich finde es gehört nicht viel dazu sich vorzustellen, wie auf soziale Weise homosexuelles *Verhalten* verhindert oder beeinträchtigt wird

        Das wird ja von den sogenannten „Biologisten“ gar nicht bestritten. Natürlich hat die Gesellschaft einen Einfluss und kann auch das Verhalten, das die Gene eigentlich „einfordern“, verhindern.

        Auf diese Fragen und wie sie gesellschaftlich verhandelt werden kann Biologie nicht zielführend antworten, darum geht es mir.

        Wenn die homosexuelle Person ihre Sexualität strotz gesellschaftlicher Strafen auslebt, kann die Biologie eine Erklärung dafür sein. Abgesehen davon könnte es doch sein, dass gerade das biologische Verständnis die Toleranz fördert. Oder nicht? Es mag Sozialdarwinisten geben, die alles ausrotten wollen, was vermeintlich biologisch „suboptimal“ ist, aber das ist kein stichhaltiges Argument. Erstens wäre es grotesk, sich aus solchen Gründen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu verweigern, zweitens gibt es auch Morde an Homosexuellen aus kulturellen (z.B. religiösen) Gründen. Bei der Frage, ob Homosexualität toleriert wird, geht es doch gar nicht darum, aufgrund welcher Tatsachen sie besteht. Wenn Homsexualität als freie Willensentscheidung betrachtet würde, wäre nicht automatisch deren gesellschaftliche Toleranz gesichert. Bei anderen freien Willensentscheidungen ist das ja auch nicht so.

      • endolex schreibt:

        Abgesehen davon könnte es doch sein, dass gerade das biologische Verständnis die Toleranz fördert. Oder nicht? Es mag Sozialdarwinisten geben, die alles ausrotten wollen, was vermeintlich biologisch “suboptimal” ist, aber das ist kein stichhaltiges Argument.

        Dass diese von dir beschriebene Bandbreite denkbar ist, zeigt doch gerade, dass sich aus biologischen Erkenntnissen keine verbindlichen ethischen Maßstäbe ableiten lassen, oder?

        „Erstens wäre es grotesk, sich aus solchen Gründen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu verweigern“*

        Das tut ja niemand, ich nicht und auch nicht die von Christian wahlweise als ‚Poststrukturalistisch‘ oder ‚Radikale Konstruktivistisch‘ bezeichneten Betrachtungsweisen. 😉 Aber da antworte ich ihm noch gezielt.

        Bei der Frage, ob Homosexualität toleriert wird, geht es doch gar nicht darum, aufgrund welcher Tatsachen sie besteht. Wenn Homsexualität als freie Willensentscheidung betrachtet würde, wäre nicht automatisch deren gesellschaftliche Toleranz gesichert. Bei anderen freien Willensentscheidungen ist das ja auch nicht so.

        Exakt! Die Frage nach Toleranz, Einflussnahme usw. ist eher eine gesellschaftliche als eine biologische.

      • @Endolex

        „all die von dir angeführten Theorien würde ich unter den von mir im Text genannten ‘biologischen Dispositionen’ zusammenfassen und erst mal auch an keiner Stelle anzweifeln (dazu fehlt mir ohnehin der biologische Hintergrund).“

        Dir ist schon klar, dass sie gegen alle radikalkonstrukivistischen Theorien sprechen und ich mir wegen dieser beständig den Vorwurf des Biologismus und dann eben auch des Antifeminismus anhören muss?
        Auch die Queertheorie ist damit nicht in Einklang zu bringen.

        „Bezweifelst du, dass sich jemand, der sich seiner homosexuellen Neigung bewusst ist, völlig ‘immun’ ist gegen gesellschaftlich vorherrschende Vorstellungen darüber, ob das ‘richtig’ oder ‘krank’ ist und einfach macht, was er möchte?“

        Nein, natürlich nicht. Aber das hat wenig mit der dazu herrschenden Debatte zu tun. Er ist dann homosexuell und die gesellschaftliche Einstellung hat schlicht nichts damit zu tun, was er ist, sondern nur damit, ob er es ausleben kann. Gerade die biologischen Theorien zeigen meiner Meinung nach, dass es relativ bescheuert ist, gegen Homosexuelle zu sein. Warum soll man sich über anders abgespeicherte Atraktivitätsmerkmale aufregen?
        Soziale Theorien befeuern diesen Hass aus meiner Sicht eher, denn was sozial begründet ist, kann man ändern und verhindern (was man natürlich nicht sollte, aber das ist eine andere Frage).

        „Auf diese Fragen und wie sie gesellschaftlich verhandelt werden kann Biologie nicht zielführend antworten, darum geht es mir.“

        Natürlich ist der Umgang mit Biologie eine gesellschaftliche Frage. Man kann sie auch dann verdammen, wenn man meint, dass sie biologisch ist. Aber wer verstehen will, warum es Homosexualität gibt, der ist eben in der Biologie richtig aufgehoben. Wenn wir soweit übereinstimmen, dann bin ich ja schon zufrieden.

        Du allerdings bist dann ein Biologist. Willkommen im Club 😉

      • endolex schreibt:

        Dir ist schon klar, dass sie gegen alle radikalkonstrukivistischen Theorien sprechen und ich mir wegen dieser beständig den Vorwurf des Biologismus und dann eben auch des Antifeminismus anhören muss?

        Ich kann nicht über deine Erfahrungen sprechen, aber: Ebenso wie vom Poststrukturalismus scheinst du vom Radikalen Konstruktivismus anzunehmen, dass bei diesen sämtliche naturwissenschaftlichen Erkenntnisse über den Haufen geworfen werden sollen. Radikaler Konstruktivismus aber geht lediglich davon aus, dass jede Theorie nur so ‚wirklich‘ ist, wie sie sich für Vorhersagen und Einflussnahmen eignet, also das Kriterium der „Viabilität“ erfüllt, und distanziert sich damit von der Ansicht, Theorien würden die „Wirklichkeit“ oder „Wahrheit“ repräsentieren. Es gibt im RK also keine ‚Annäherung an die Wirklichkeit‘ sondern nur eine ‚Erweiterung viabler Strategien‘, unsere Erfahrungswelt wahrzunehmen und zu beeinflussen. Hierin sind biologische Theorien genau so integrierbar wie psychologie, soziologische oder andere.
        Queer-Theorie wiederum besagt (soweit ich sie verstehe) nichts anderes als die Wahrnehmung (und Kommunikation) unseres Geschlechtsbegriffes nicht unmittelbar aus Biologie erfolgt. Wenn wir von ‚Mann‘ sprechen, assozieren wir damit ein breites Feld an körperlichen Merkmalen und den mit ihnen verbindlichen Verhaltensweisen, welchen starken gesellschaftlichen Einflüssen unterliegen. Nach Queertheorie kann sich also auch ein (biologischer) Mann als ‚Frau‘ fühlen, ohne die dafür aus deiner Sicht ’nötige‘ biologische Disposition aufzuweisen – ein solcher Fall wäre aus einem rein biologischen Blickwinkel aber nicht erklärbar.

        Entscheidend ist dabei, dass eine Theorie nicht ‚falsch‘ sein muss, nur weil eine andere Theorie einen Vorgang ebenfalls zu einem gewissen Grad zuverlässig beschreibt. Wie sich das dann kombinieren ließe da hatte ich ja auf diesen hypothetischen Algorithmus verwiesen.

        Er ist dann homosexuell und die gesellschaftliche Einstellung hat schlicht nichts damit zu tun, was er ist, sondern nur damit, ob er es ausleben kann.

        Was er „ist“, da geht es ja schon los. Die gesellschaftliche Definition und strenge Trennung von Homo-, Hetereo- und Bisexuellem „Sein“ ist ja eher neu. Biologische Dispositionen lassen sich feststellen – aber wie wird das ‚Sein‘ bestimmt? Durch die Praxis, wie oft mit welchem Geschlecht geschlafen wird? Oder durch die gefühlte Neigung? Durch die gesellschatliche Zuordnung zu einer ’sexuellen Identität‘?

        Gerade die biologischen Theorien zeigen meiner Meinung nach, dass es relativ bescheuert ist, gegen Homosexuelle zu sein. Warum soll man sich über anders abgespeicherte Atraktivitätsmerkmale aufregen?

        Menschen kommen auf allerlei bescheuerte Ideen und versuchen sie mit Naturwissenschaft zu verknüpfen („Frauen können nicht so gut denken, weil sie kleinere Gehirne haben“). Dass sich aus „angeboren“ nicht „erlaubt“ ableiten lässt, habe ich schon bei Stephan ausführlich beschrieben.
        Und auch aus sozialem Ursprung von Verhalten lässt sich kaum ableiten, was sozial wünschenswert ist. Wenn sich (rein durch soziale Experimente) herausstellt, dass Menschen mit Rhetorischer Technik X leicht in ihren Entscheidungen zu manipulieren sind, lässt sich daraus ableiten, ob die Verwendung von Rhetorischer Technik X nun etwas ‚gutes‘ oder ’schlechtes‘ ist?

        Natürlich ist der Umgang mit Biologie eine gesellschaftliche Frage. Man kann sie auch dann verdammen, wenn man meint, dass sie biologisch ist. Aber wer verstehen will, warum es Homosexualität gibt, der ist eben in der Biologie richtig aufgehoben. Wenn wir soweit übereinstimmen, dann bin ich ja schon zufrieden.

        „Warum es Homosexualität gibt“ ist auch schon eine so vielfältig verstehbare Frage. 🙂 Ich sage eben: Wenn ich wissen will, welche biologischen Faktoren bei homosexuellem Verhalten eine Rolle spielen können, dann schaue ich in die Biologie. Das macht mich allerdings nicht zum Biologisten – ein Biologist wäre der Ansicht, dass sich homosexuelles Verhalten ausschließlich (oder zumindest größtenteils) durch Biologie beschreiben, vorhersagen und beeinflussen lässt.

      • Christian schreibt:

        @endolex

        Dann verwendest du eine andere Definition von Biologist als die meisten Feministen. Dort ist es meist jede biologische Begründung für Verhalten, auch eben Homosexualität

      • endolex schreibt:

        Kommt eben ganz drauf an, was du unter ‚Begründung‘ verstehst: Eine ausschließlich biologische Erklärung (-> radikaler Biologismus) oder lediglich eine biologischer Faktor (kein radikaler Biologismus).

      • Christian schreibt:

        Queer Theorie geht meiner Meinung nach davon aus, dass Homosexualität ein soziales Konstrukt ist. Das ist schwer mit Biologie vereinbar.

        http://en.wikipedia.org/wiki/Queer_theory

        „Queer theory includes both queer readings of texts and the theorisation of ‚queerness‘ itself. Heavily influenced by the work of Eve Kosofsky Sedgwick, Judith Butler, and Lauren Berlant, queer theory builds both upon feminist challenges to the idea that gender is part of the essential self and upon gay/lesbian studies‘ close examination of the socially constructed nature of sexual acts and identities“

        Verstehe ich das falsch?

      • endolex schreibt:

        Ich pick hier mal die „socially constructed nature of sexual acts and identities“ heraus:
        Das verstehe ich so, dass unsere Vorstellungen davon, wie ‚richtiger Sex‘ oder überhaupt Sex ‚an sich‘ aussieht und abzulaufen hat, damit er sich für beide gut anfühlt, sozial konstruiert und individuell verschieden sind, ebenso wie die ’sexuellen Identitäten‘ welche wir aus diesen Vorstellungen bilden. Das ist auf rein körperliche Stimuli und Rein-Raus eben nicht zu reduzieren, dann hätten nämlich alle Menschen auf exakt die selbe Weise Sex.
        Diese Sichtweise rüttelt m.E. kein Stück an biologischen Grundlagen, die sexuelle Handlungen überhaupt erst ermöglichen. Und das meinte ich im übrigen auch mit dem Satz

        Insgesamt ist mein Eindruck, dass gerade die Sexualität der Menschen kulturell und kognitiv derart stark überformt, codifiziert und diversifiziert ist, dass sowohl bei homo- als auch hetereosexuellen Verhalten kaum noch eine Aussage darüber möglich scheint, welches Verhalten nun “rein biologischen” Ursprungs ist (mal abgesehen von z.B. körperlichen Erregungszuständen, welche aber wiederum sehr stark an das gekoppelt sind, was als sexuell besonders erregend empfunden wird, angeborener- oder erworbenermaßen).

      • Stephan Fleischhauer schreibt:

        Die Wikipedia-Definition sagt doch:

        1. Es wird abgestritten, dass Gender [was damit auch immer gemeint ist] ein grundlegender Wesensbestandteil ist.
        2. Sexuelle Handlungen und Identitäten sind sozial konstruiert (was durch Studien über Lesben und Schwule nachgewiesen wird)

      • endolex schreibt:

        Noch mal ein letzter Versuch, in ganz kurz zu erklären, was „Gender“ aussagt: Es geht um eine Trennung der biologischen Geschlechtsmerkmale und der soziokulturellen Vorstellungen des Begriffes „Geschlecht“, also jeweils männlich oder weiblich.
        Im englischen also wird mit „Sex“ das biologische Geschlecht bezeichnet, mit „Gender“ das soziale Geschlecht (also die Summe aller Bilder, Ideen und Verhaltenserwartungen, die an jemanden gerichtet werden unter diesem Begriff). Und „Gender“ entsteht eben nicht zu 100% durch „Sex“.
        Bedeutet also: DIe Sexuellen Handlungen und Identitäten finden statt, sind aber nicht auf rein körperliche Merkmale zurückzuführen.

      • Stephan Fleischhauer schreibt:

        Dein persönlicher Standpunkt ist längst rübergekommen. Es ging darum, ob er mit Queer Theory in Einklang ist.

      • endolex schreibt:

        Jup, und darum habe ich erklärt, wie ich Queer Theory verstehe.

      • Stephan Fleischhauer schreibt:

        Dein Ausweichmanöver macht die Diskussion echt schwierig.

        Ddann eben so:

        Es geht darum, ob du die Queer Theory richtig verstanden hast.

      • endolex schreibt:

        Mir ist schon klar, was du meinst – nur darauf kann ich dir keine Antwort geben außer: Ich finde meine Position in Einklang mit QT, so wie ich sie rezipiere – und mir ist keine Interpretation bekannt, welche den Einfluss biologischer Sachverhalte im Hinblick auf Geschlechterfragen in absoluter Weise anzweifelt, also wirklich eine rein sozial determinierende Schiene fährt – das hieße ja wie gesagt, dass Frauen durch ‚männliche‘ Sozialisierung auch biologisch zu Männern werden, und diese Position habe ich noch nie irgendwo gelesen oder gehört. Über das Wirkverhältnis zwischen biologischen und sozialen Faktoren wird natürlich munter debattiert.

      • Stephan Fleischhauer schreibt:

        das hieße ja wie gesagt, dass Frauen durch ‘männliche’ Sozialisierung auch biologisch zu Männern werden

        Was meinst du mit „biologisch“?
        Du meinst, dass Frauen durch männliche Sozialisierung dazu gebracht werden könnten, sich als Mann zu fühlen und auf Frauen zu stehen? Doch, das ist das, was die Queer-Theorie sagt.
        Oder meinst du „biologisch“ in dem Sinne, dass ein biologisch männlicher Körper ausgeformt wird?

      • endolex schreibt:

        Du meinst, dass Frauen durch männliche Sozialisierung dazu gebracht werden könnten, sich als Mann zu fühlen und auf Frauen zu stehen? Doch, das ist das, was die Queer-Theorie sagt.

        Jein. Queer Theory sagt: Was wir begrifflich unter ‚Frau‘ und ‚Mann‘ verstehen, ist bereits sozial konstruiert. Die biologischen Merkmale für sich genommen existieren – wir wir aber damit umgehen, was wir alles mit ‚Mann‘, ‚Frau‘, ‚homosexuell‘, ‚heterosexuell‘ assozieren bzw. diese Begriffe überhaupt erst schaffen („homosexuell“ / „heterosexuell“ gibt es wie gesagt noch nicht so lange), das ist konstruiert. Mal ganz von Hölzchen auf Stöckchen: Wenn du dir zwischen die Beine fasst und die Sensorik deiner Fingerspitzen dir Signale ans Gehirn schickt, was du da so ertastet, diese Signale selbst lassen sich nicht sozial verändern. Aber was du im Kopf daraus machst, was du in Sachen ‚Identität‘ daraus zimmerst – das ist in hohem Maße sozial bedingt.

        Oder meinst du “biologisch” in dem Sinne, dass ein biologisch männlicher Körper ausgeformt wird?

        Jup, das wäre ja die logische Folgerung aus einer Position, die besagt, dass *alles* geschlechtliche sozial konstruiert ist. Und einen solchen Humbug habe ich im Namen der Queer Theory oder sonstige sozialkonstruktivistischen Ansätze noch nie gelesen.

      • Stephan Fleischhauer schreibt:

        Zu deiner Jein-Antwort: Ich würde dir da widersprechen. Wissenschaft hat immer die Möglichkeit, sich der Alltagssprache zu entziehen, indem sie eigene Fachbegriffe schafft. Selbst wenn man davon ausgeht, dass Begriffe wie Mann, Frau durch die Sozialisation erst geschaffen werden, heißt das ja nicht, dass einem der Blick auf objektive Tatsachen verstellt ist. Man kann versuchen, objektive Kriterien zu entwickeln, was als Mann, Frau (bzw. entsprechende Fachwörter, gerne auch für weitere Geschlechter) gelten soll. Man kann auch Verhalten versuchen zu objektivieren. (Man wird um statistische Techniken natürlich nicht herumkommen.) Und man kann dann Regularitäten feststellen, die Schlussfolgerungen erlauben, ob ein Verhalten eher biologisch und was eher sozialogisch zu erklären ist. Absolut sichere Beweisführungen sind da zwar schwer möglich, aber das rechtfertigt nicht einen totalen Relativismus. Man würde doch auch nicht sagen, das typischerweise monogame Verhalten von Gänsen sei sozial konstruiert. Der Mensch ist keine Neuerfindung, sondern eine evolutionär hochentwickeltes Tier. Es gibt da ein sehr starke Komplementarität in deiner Argumentation:

        • Biologische Ursachen für Geschlechterverhalten sind grundsätzlich möglich.
        • Durch kulturelle Entwicklung ist dieses Verhalten so stark beeinflusst, dass biologische Ursprünge nicht sicher genug erkennbar sind.
        • Biologische Ursachen – wenn sie auch denkbar sind – sollten „defaultmäßig“ bei der Theoriebildung außer Acht gelassen werden (abgesehen von manchen – wenigen? – Dingen wie Erektion, Orgasmus, Kinderwunsch, die noch klar als biologisch verursacht erkennbar sind)

        Ich glaube, diese „defaultmäßige“ Einstellung ist das Problem. Da wird meines Erachtens der Blick auf Dinge versperrt, die durchaus deutlich erkennbar sind. Nehmen wir Transsexualität. Warum sollte sich eine transsexuelle Frau, also eine „Frau im Männerkörper“, ihre geschlechtliche Identität sozial konstruiert haben? Was hat sie dazu veranlasst? Die Gesellschaft? Warum werden hier die biologischen Erkläungsversuche so gering geschätzt?

      • Stephan Fleischhauer schreibt:

        Hatte ich noch vergessen:

        Ansonsten hat es speziell im 19. Jahrhundert echt nicht an Versuchen gemangelt, Frauen auf wissenschaftlichem Weg in ihre konstruierten Schranken zu verweisen.

        Du sagtst: „speziell im 19. Jahrhundert“ – bedeutet das nicht, dass der „wissenschaftliche Weg“ inzwischen in eine andere Richtung geht?

        Ich habe ein wenig das Gefühl, dass du mir und Christian misstraust. Du nimmst es uns einfach nicht ab, dass wir Frauen nicht „minderwertig“ finden und dass wir sie nicht runtermachen wollen. Hab ich recht?

    • Stephan Fleischhauer schreibt:

      Man kann auch Verhalten versuchen zu objektivieren.
      Das habe ich evtl. unklar ausgedrückt. Ich meine: Man kann versuchen, beobachtbares Verhalten mithilfe von objektiven Kriterien zu beschreiben, jedenfalls näherungsweise. (Wird ja auch in der Psychologie so gemacht.)

      • Stephan Fleischhauer schreibt:

        Sorry, wieder falsches Feld … vielleicht lern ich’s nochmal.
        Diskussion kann ja hier wietergehen 🙂

      • endolex schreibt:

        Ich fass mal hier alles zusammen, ja.

        Wissenschaft hat immer die Möglichkeit, sich der Alltagssprache zu entziehen, indem sie eigene Fachbegriffe schafft. Selbst wenn man davon ausgeht, dass Begriffe wie Mann, Frau durch die Sozialisation erst geschaffen werden, heißt das ja nicht, dass einem der Blick auf objektive Tatsachen verstellt ist.

        Ich finde, doch, genau das heißt es. Denn wir haben keinen Blick für ‚objektive Tatsachen‘. Unsere Konstruktionen, Stereotypisierungen, Ergebnisse schnellen, assoziativen Denkens bilden stark reduzierte (gefilterte, verkürzte) Darstellungen dessen, was unsere Sinne empfangen, und sie lassen die konkreten Bilder entstehen, mit denen wir (all)täglich umgehen. Anders könnten wir auch gar nicht überleben. Die ‚objektiven Tatsachen‘ lassen sich meiner Ansicht nach (Konstruktivismus) auf direktem Wege nicht ermitteln – wir können lediglich Instrumente und Begriffe konstruieren, die sich für den Umgang mit diesen Tatsachen eignen. Für einen möglichst präzisen Umgang sind möglichst präzise, also wissenschaftliche Begriffe nötig. Der Blick auf eine ‚objektive Wirklichkeit‘ lässt sich für mich also nur im Sinne von ‚intersubjektiv nachvollziehbar‘ erreichen, also so gesehen nach dem wissenschaftlichen Prinzipien der Wiederholbarkeit und Überprüfbarkeit. Mehr dazu noch etwas weiter unten.

        Und man kann dann Regularitäten feststellen, die Schlussfolgerungen erlauben, ob ein Verhalten eher biologisch und was eher sozialogisch zu erklären ist.

        Man kann gut erklären, inwieweit ein Verhalten mit sozialen Ursachen zusammenhängt. Und man kann gut darstellen (gehe ich jetzt mal freundlicherweise von aus), inwieweit ein Verhalten mit biologischen Ursachen zusammenhängt. Aber beides zusammenzufügen und zu sagen „bis hierhin wirken ausschließlich biologische Faktoren, und bis dahin ausschließlich soziale“ – das ist eine falsche Schlussfolgerung, denke ich.
        Mal ein rein hypothetisches Beispiel: Es kann sowohl stimmen, dass 70% aller Gewalttäter das Gen X haben, und es kann auch stimmen, dass 70% aller Gewalttäter eine gewaltsame Kindheit hatten. Wäre das widersprüchlich? Nein. Es wären beides statistisch betrachtet begünstigende Faktoren für gewaltsames Verhalten, und es wäre schwierig zu sagen, welcher der beiden Faktoren jetzt ‚grundlegender‘ wirkte. Was mir als ‚Regularie‘ denkbar bleibt, wäre eine Art „Formel“, die beide Faktoren in einen Bezug zueinander setzt – der aber eben nicht ‚gegenseitig exklusiv‘ ist.

        Man würde doch auch nicht sagen, das typischerweise monogame Verhalten von Gänsen sei sozial konstruiert. / Der Mensch ist keine Neuerfindung, sondern eine evolutionär hochentwickeltes Tier.

        Es gibt bei Tierarten ja durchaus kleine Unterschiede in den jeweiligen regionalen ‚Kulturen‘, aber natürlich wesentlich kleinere als bei Menschen. Denn: Gänse pflegen ja auch nicht sich über ihr Verhalten auszutauschen. Die Entwicklung einer komplexen Sprache dürfte die Möglichkeiten der Menschen, Ideen und Vorstellungen kollektiv weiterzugeben und zu verändern, enorm gesteigert haben.

        • Biologische Ursachen – wenn sie auch denkbar sind – sollten “defaultmäßig” bei der Theoriebildung außer Acht gelassen werden (abgesehen von manchen – wenigen? – Dingen wie Erektion, Orgasmus, Kinderwunsch, die noch klar als biologisch verursacht erkennbar sind)

        Bei Theorien, die hauptsächlich soziale Phänomene erklären und die Wirkung sozialer Maßnahmen voraussagen sollen – ja. Wie ich schon mal Christian schrieb: Eine Theorie, die sagt: „Sport gemeinsam mit anderen Menschen zu treiben verändert die Persönlichkeit“ ist vergleichsweise viel leichter zu prüfen als eine Theorie, die besagt: „Sport gemeinsam mit anderen Menschen verändert den Hormonhaushalt, was sich wiederum auf die Persönlichkeit auswirkt“. Das bedeutet dann nicht, dass das mit den Hormonen zwangsläufig falsch sein muss – es spielt nur einfach gar keine Rolle für die Viabilität der ersten, einfacheren Theorie. Und jede erweiterte Theorie, so sie für die Erklärung von etwas herangezogen werden soll, stellt in der Wissenschaft zusätzlichen ‚Ballast‘ dar. Wissenschaft versucht möglichst mit wenig Ballast auszukommen, denn schon die einfachsten Zusammenhänge statistisch zu belegen ist kompliziert genug. Deshalb habe ich auch so wenig Hoffnung für eine brauchbare „Allmenschheitsformel“ aus Biologie und Sozialem.

        „Nehmen wir Transsexualität. Warum sollte sich eine transsexuelle Frau, also eine “Frau im Männerkörper”, ihre geschlechtliche Identität sozial konstruiert haben? Was hat sie dazu veranlasst? Die Gesellschaft? Warum werden hier die biologischen Erkläungsversuche so gering geschätzt?“

        Ich würde sagen, umgekehrt wird ein Schuh draus. 😉 Die Feststellung, „im falschen Körper zu stecken“ ist die Erkenntnis, dass die zuvor gesellschaftlich konstruierte (und auf den äußerlich sichtbaren biologischen Geschlechtsmerkmalen aufbauende) Geschlechterzuordnung eben *nicht* dem eigenen Empfinden entspricht. Und wenn ich in einer Gesellschaft lebe, in der ich meinen Körper an mein Empfinden anpassen kann und dies den meisten Menschen bekannt und als Prozedur weitgehend akzeptiert ist, dann fühle ich mich in so einer (daher ebenfalls gesellschaftlich konstruierten) „transsexuellen“ Identität gleich viel wohler und entschließe mich wahlweise für eine Operation oder nicht.
        Ob es dafür biologische Ursachen gibt oder nicht, spielt da so gesehen gar keine Rolle. Das zu erforschen kann interessant sein (besonders für Biologen). Nur erlaubt es eben (im Sinne des ursprünglichen Beitrags) kein moralisches Urteil über das, was wir als Transsexualität wahrnehmen.
        Gibt es in einer Gesellschaft jedoch keine Vorstellung von ‚Transsexualität‘, ist so etwas völlig unerhört und gilt als pervers oder sonst etwas, dann haben es immer die Menschen am schwersten, die irgendetwas zuallererst tun, was es vorher noch nie gab, wofür es noch keine verbreiteten Begriffe gibt. Wäre alles immer so klar, so objektiv feststellbar, und so direkt der Biologie entspringend und allen selbstverständlich, dann hätten gesellschaftliche Veränderungen nie stattgefunden.

        „Letzteres sagt niemand, wirkliche NIEMAND.“

        Zitat Christian (http://allesevolution.wordpress.com/2012/08/05/was-genau-ist-dein-anliegen-was-willst-du-bewegen-mit-den-biologischen-erklarungen/)

        „Sicher neige ich mitunter dazu, alles in die mir bisher am schlüssigsten erscheinenen Theorien einbauen zu wollen. Aber wer versucht das mit seinen Theorien nicht? Meiner Meinung nach gelingt dies durchaus häufig.“

        Und das ist sehr zurückhaltend von ihm ausgedrückt, wie ich finde, bedenkt man mal viele seiner Erklärungen für Verhalten. 😉 Aber mal im Ernst: Genau so wenig wie ich den Vorwurf stehen lassen will, „Genderfeminismus“ schließe die Existenz und Verhaltenswirksamkeit biologischer Sachverhalte fast völlig aus, so wenig will ich ernsthaft behaupten, dass heutige Biologisten gesellschaftliche Effekte auf nahezu *absolute* Weise abstreiten. Natürlich ist es ein ständiger ‚Kampf‘ darum, was mehr wirkt. Aber wie ich diesen „Kampf“ sehe, hab ich weiter oben ja schon beschrieben. In jedem Fall ändert es für mich nichts an der Tatsache, dass Biologie uns herzlich wenig darüber sagen kann, was gesellschaftlich ‚richtig‘ und ‚falsch‘ ist, um erneut zum Thema des Beitrags zurückzukehren.

        Du kennst keine Versuche, wissenschaftlich zu belegen, dass sich männliche und weibliche Gehirne auf grundsätzliche Weise unterscheiden, was Frauen und Männer grundsätzlich unterschiedlich geeignet für verschiedene Aufgaben macht? Spontan kann ich dir als aktuelle Vertreter dieser Bemühungen Louann Brizendine und Simon Baron-Cohen nennen. Ansonsten hat es speziell im 19. Jahrhundert echt nicht an Versuchen gemangelt, Frauen auf wissenschaftlichem Weg in ihre konstruierten Schranken zu verweisen. Hier ein netter kleiner Überblick als Kostprobe: http://www.answersingenesis.org/articles/tj/v14/n1/females

        Und zuletzt:

        Man kann versuchen, beobachtbares Verhalten mithilfe von objektiven Kriterien zu beschreiben, jedenfalls näherungsweise. (Wird ja auch in der Psychologie so gemacht.)

        Auch die Psychologie bemüht sich sehr um Präzision beim Konstruktieren und Verwenden der Begriffe, mit denen Erleben und Verhalten beschrieben werden soll – und diese Begriffe finden manchmal in die Alltagssprache, manchmal auch nicht. In jedem Fall ist Alltagssprache kein „objektives Kriterium“ für wissenschaftliches Arbeiten. Die aus meiner Sicht beste Defintion ist stets eine ‚operationale‘, also eine reine Definition dessen, wie die zu ermittelnde Eigenschaft oder Verhalten gemessen bzw. beobachtet wird. Da stimme ich z.B. Edwin Boring also vollkommen zu: „Intelligenz ist das, was der Intelligenztest misst.“ Damit ist nämlich ziemlich sichergestellt, dass kein ‚qualitativer Sprung‘ zwischen der Messmethode und dem, was da „eigentlich“ gemessen werden soll, erfolgt.
        Und ein großer ‚qualitativer Sprung‘ bzw. nicht weniger als ein Kategorienfehler besteht für mich darin, wenn mit biologischen Theorien in großem Maße Antworten auf gesellschaftliche Fragen gesucht werden. Das ist für mich eben wie wenn jemand versucht, ein Gemälde zu beschreiben – anhand der chemischen Zusammensetzung seiner Farben. Es geht um die gleiche Sache – aber aus völlig verschiedener Perspektive.

        Nimm mir ab dieser Stelle bitte nicht übel, wenn ich mir mit dem Antworten künftig etwas mehr Zeit lasse. Ich finde, ich habe inzwischen alles, was mir für das Thema wesentlich erscheint, mehrfach und auf verschiedene Weise gesagt, und meine Freizeit ist leider nicht so unendlich groß, als dass ich sie nach Belieben mit Bloggerei / Kommentiererei füllen könnte. 🙂

      • Stephan Fleischhauer schreibt:

        Denn wir haben keinen Blick für ‘objektive Tatsachen’.

        Siehst du das generell so, oder bezeihst du das nur auf die genannten Beispiele (Mann, Frau). Ist auch die 300 Jahre alte Newtonsche Mechanik nur ‘intersubjektiv nachvollziehbar’? Was bedeutet ‘intersubjektiv nachvollziehbar’ überhaupt? Ist das sowas ähnliches wie ‘nur statistisch nachweisbar’? Dann würde ich dir recht geben, aber dann sind wir wieder bei einem totalen Relativismus.

        Inwiefern sind eigentlich die soziologischen Erklärungen der Geschlechterrollen besser ‘intersubjektiv nachvollziehbar’ als die biologischen?

        Man kann gut erklären, inwieweit ein Verhalten mit sozialen Ursachen zusammenhängt. Und man kann gut darstellen (gehe ich jetzt mal freundlicherweise von aus), inwieweit ein Verhalten mit biologischen Ursachen zusammenhängt. […] Es kann sowohl stimmen, dass 70% aller Gewalttäter das Gen X haben, und es kann auch stimmen, dass 70% aller Gewalttäter eine gewaltsame Kindheit hatten. Wäre das widersprüchlich? Nein.

        Ich kann nicht erkennen, weshalb man ‘defaultmäßig’ von tabula rasa ausgehen sollte.

        Noch ein kleiner Hinweis, der jetzt nicht entscheidend wichtig ist, aber doch zeigt, in welchem Umfang eine gewisse Objektivierung möglich ist. Angenommen, es stellt sich heraus, das Adoptivkinder eines gewalttätgen Vaters weniger zur Gewalttätigkeit neigen als leibliche Kinder. Das wäre ein Hinweis, dass Vererbung eine Rolle spielen könnte. Man könnte einwenden, der Vater würde leibliche Kinder möglicherweise etwas anders behandeln als leibliche. Um dies wiederum unwahrscheinlicher zu machen, könnte man mit Kuckuckskindern vergleichen. Das nur als kleiner Exkurs. Ich gebe dir recht, dass 100%ige Beweisbarkeit des genetischen Einflusses nicht möglich ist.

        Was mir aber ein sehr wichtiger Hinweis ist: Wenn ich eine genetische Ursache vertrete, bedeutet das nicht, dass ich die soziologischen Einflüsse für kleiner als die genetischen halte. Ich beschränke mich da nur auf einen Aspekt. Ich glaube, da wird auch Christian oft missverstanden, weil seine biologische Sichtweise zu der Annahme verleitet, dass er die soziologischen Aspekte ‘herunterspielen’ will.

        Das Entscheidende ist, dass die Soziologie in Einklang mit den Naturwissenschaften steht. Und da ist es eben ein Problem, wenn Soziologen das Biologische ‘defaultmäßig’ ausblenden, entsprechende Studien lächerlich machen, den biologischen Argumenten sachfremde Absichten unterstellen.

        Zu meinem Gänse-Beispiel: Mir ging es da nur um deinen Relativismus. Klar sind die Voraussetzungen bei Gänsen völlig anders, aber wenn man so argumentiert wie du, müsste man sagen: Auch bei Gänsen lässt sich eine soziale Konstruktion ihres Verhaltens nicht 100%ig ausschließen. Das Gänse-Beispiel sollte den vorausgegeangenen Satz erläutern: Absolut sichere Beweisführungen sind da zwar schwer möglich, aber das rechtfertigt nicht einen totalen Relativismus.

        Zu deiner Rechtfertigung des ‘defaultmäßigen’ Ausblendens biologischer Ursachen. Du schreibst:

        Bei Theorien, die hauptsächlich soziale Phänomene erklären und die Wirkung sozialer Maßnahmen voraussagen sollen – ja.

        Aber es ist doch gerade die Frage, ob es um soziale Phänomene geht. Es können eben auch biologische sein, jedenfalls anteilig. Wenn man das Biologische zurückweist, muss man sich mit dem Biolgischen zumindest beschäftigen – allein deshalb darf es nicht ‘defaultmäßig’ ausgeblendet werden. Wenn die Soziologie sich nicht darum kümmert, ob sie mit den Naturwissenschaften im Einklang ist, wird sie sich langfristig aufs Abstellgleis manövrieren. Ich werf hier mal ’ne steile These in den Raum: Wegen der viel strengeren Methodik der Naturwissenschften werden diese am Ende recht behalten.

        Eine Theorie, die sagt: “Sport gemeinsam mit anderen Menschen zu treiben verändert die Persönlichkeit” ist vergleichsweise viel leichter zu prüfen als eine Theorie, die besagt: “Sport gemeinsam mit anderen Menschen verändert den Hormonhaushalt, was sich wiederum auf die Persönlichkeit auswirkt”.

        Die zweite Theorie hat den höhren Erkenntniswert. Denn die erste sagt ja nichts über die genaueren Mechanismen.

        Das bedeutet dann nicht, dass das mit den Hormonen zwangsläufig falsch sein muss – es spielt nur einfach gar keine Rolle für die Viabilität der ersten, einfacheren Theorie.

        Ich greife mal deine Poststrukturalistischen Jargon auf: Für die Viabilität spielt es keine Rolle (so die Theorie stimmt), aber durchaus für das tiefere Verständnis und die Übertragbarkeit und Voraussagbarkeit bei anderen Phänomenen. Und deshalb handelt es sich bei den biologischen Erkenntnissen nicht um ‘Ballast’ – um auch deine Wertung aufzugreifen.

        Die Feststellung, “im falschen Körper zu stecken” ist die Erkenntnis, dass die zuvor gesellschaftlich konstruierte (und auf den äußerlich sichtbaren biologischen Geschlechtsmerkmalen aufbauende) Geschlechterzuordnung eben *nicht* dem eigenen Empfinden entspricht.

        Das Entscheidende ist ja, wie es zu dieser Erkenntnis überhaupt kommt. Vor dieser Erklärung drückst du dich. Beachte bitte, dass Transsexuelle meistens bereits im Kindesalter diese Wahrnehmung haben. Das müssten ja alles kleine Poststrukturalisten sein, die die Gemachtheit der Geschlechterrollen bereits durchschaut haben. Und zwar auch dann, wenn sie gar keinen Kontakt zu Gender-kritischen Szenen hatten. Kannst du mir bitte noch einmal erklären, wie du dir das im Groben vostellst, dass ein Kind zu der Erkenntnis gelangt, im falschen Körper zu stecken? Das würde meinem Verständnis wirklich sehr viel weiterhelfen! Beschränke dich gern auf diese eine Frage und ignoriere alle meine anderen Einwände.

        Und wenn ich in einer Gesellschaft lebe, in der ich meinen Körper an mein Empfinden anpassen kann und dies den meisten Menschen bekannt und als Prozedur weitgehend akzeptiert ist, dann fühle ich mich in so einer (daher ebenfalls gesellschaftlich konstruierten) “transsexuellen” Identität gleich viel wohler und entschließe mich wahlweise für eine Operation oder nicht.

        Ich bin da anderer Meinung. ich glaube, dass das gesellschaftlich noch nicht akzeptiert ist. Soweit ich weiß, verbergen erfolgreich operierte Transsexuelle gern ihre Vergangenheit, auch heute noch.

      • endolex schreibt:

        Was bedeutet ‘intersubjektiv nachvollziehbar’ überhaupt?

        http://de.wikipedia.org/wiki/Intersubjektivit%C3%A4t

        Ich greife mal deine Poststrukturalistischen Jargon auf:

        Radikalkonstruktivistisch, bitte. http://de.wikipedia.org/wiki/Radikaler_Konstruktivismus
        „Postrukturalistisch“ ist an sich erst mal überhaupt keine genaue Bezeichnung für irgendetwas, und so wie Christian und du den Begriff verwenden ist es für euch anscheinend nur ein anderes Wort für „(natur)wissenschaftsfeindlich“
        Ich leg allgemein ja keinen großen Wert auf Labeldiskussionen, aber das fand ich dann doch mal korrekturbedürftig.

        Wenn die Soziologie sich nicht darum kümmert, ob sie mit den Naturwissenschaften im Einklang ist / Die zweite Theorie hat den höhren Erkenntniswert. Denn die erste sagt ja nichts über die genaueren Mechanismen.usw.

        Nimm evtl. noch mal das 70:70-Beispiel und stell dir folgenden Dialog dazu vor:
        „Leute werden wegen einer schweren Kindheit gewalttätig, hier guck, die Studie!“
        „Neiiin, Leute werden aus genetischen Gründen gewalttätig, hier guck, die Studie!“
        Scheinkonflikt. Zwei Modelle können den selben Sachverhalt aus verschiedener Perspektive erklären, vorhersagen, beeinflussen. Im Einklang befindet sich das solange, wie es keine 1:1 entgegengesetzten Behauptungen gibt. Ein tatsächlicher Widerspruch tritt also nur dann auf, wenn ein Erklärmodell im Vergleich zu einem anderen
        1. den exakt *gleichen* Wirkmechanismus
        2. als *nicht* wirksam darlegt oder (stärkerer Widerspruch) eine *gegenteilige* Wirkung behauptet
        Das wird aber kaum passieren, wenn die beiden Erklärmodelle aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen kommen (auf deine aus meiner Sicht unsinnige Behauptung der strengeren Methodik geh ich hier mal nicht ein, da streite dich von mir aus mit Sozial- und Naturwissenschaftlern). Es stünden also selbst die (rein hypothetische) biologische Feststellung, dass Schläge auf den Hinterkopf rein neuronal betrachtet das allgemeine Denkvermögen erhöhen und die (rein hypothetische) psychologische Erkenntnis, das Schläge auf den Hinterkopf zu Entmutigung führen und sowohl die situative und langfristige Denkbereitschaft (besonders gegenüber der schlagenden Person) einschränken, NICHT im Widerspruch zueinander.

        Das „tiefere Verständnis“ indessen besitzt nur dann eine gewisse Aussagekraft, wenn es zu mehr Viabilität führt, also nachweislich bessere Vorhersagen machen kann – und diese Verbesserung in einem günstigen Verhältnis zum theoretischen Mehraufwand steht (siehe dazu auch http://de.wikipedia.org/wiki/Ockhams_Rasiermesser).

        Ist die Einsicht, dass auch biologische Faktoren individuelles Erleben und Verhalten beeinflussen ein Grund dafür, die aus gesellschaftlicher / psychologischer Sicht ebenfalls als wirksam festgestellten Ursachen so zu belassen wie sie sind? Nein. Versuchen Biologisten aber in der Vergangenheit und auch in der Gegenwart und üben Kritik an genau solchen Bemühungen, weil sie da ‚Gleichmacherei‘ befürchten, erst mal ganz unabhängig davon, ob sie Frauen generell herabwürdigen wollen oder nicht (ich habe übrigens keinen Grund zu der Annahme, dass das Christians oder deine Absicht ist).
        Dass noch heute eine Menge Stereotype über Frauen und Männer wirkmächtig sind (und nimmermüde versucht wird, diesen Geschlechter-Essentialismus wissenschaftlich zu begründen und gesellschaftlich zu festigen) zeigt mir, dass wir das 19. Jahrhundert noch nicht ganz hinter uns gelassen haben. Ganz allgemein ausgedrückt wird es aber aus meiner Sicht nie so sein, dass wir irgendwann einen gesellschaftlich derart ‚endgültig erleuchteten‘ Zustand erreicht haben, dass wir nie wieder auf unsere eigenen uralten Denkfehler von damals hereinfallen könnten.

        Das Entscheidende ist ja, wie es zu dieser Erkenntnis überhaupt kommt. Vor dieser Erklärung drückst du dich. Beachte bitte, dass Transsexuelle meistens bereits im Kindesalter diese Wahrnehmung haben. Das müssten ja alles kleine Poststrukturalisten sein, die die Gemachtheit der Geschlechterrollen bereits durchschaut haben. Und zwar auch dann, wenn sie gar keinen Kontakt zu Gender-kritischen Szenen hatten. Kannst du mir bitte noch einmal erklären, wie du dir das im Groben vostellst, dass ein Kind zu der Erkenntnis gelangt, im falschen Körper zu stecken? Das würde meinem Verständnis wirklich sehr viel weiterhelfen! Beschränke dich gern auf diese eine Frage und ignoriere alle meine anderen Einwände.

        Ah, okay, du scheinst hier zu vermuten, dass ich biologische Sachverhalte völlig ausklammere, nur weil ich für die persönliche Entwicklung, Bewusstseins- und Identitätsbildung eines transsexuellen Menschen (nach folgender Definition) im großen Maße soziale Effekte ausmache. Lass es mich folgendermaßen ausdrücken:
        1. Wenn wir Transsexualität für diesen Fall jetzt mal so definieren, dass aus ‚hormon-genetischen‘ Gründen (mal jetzt nur als Platzhalter für alle denkbaren biologischen Dispositionen) ein Mensch andere Geschlechtsorgane ausbildet als ‚eigentlich vorgesehen‘, und das von einem Menschen beliebigen Alters, der auf seine eigenen Weichteile schaut, als ‚falsch‘ empfunden wird
        2. dann wird dieser Sachverhalt im großen Maße abhängig davon als eher ’normal‘ oder eher ‚pathologisch‘ bewertet (sowohl vom Individuum als auch dem sozialen Umfeld), welche Vorstellungen von „Transsexualität“ (hier absichtlich in Anführungszeichen, um nicht die biologischen Sachverhalte selbst sondern ihre zusammengefasste begriffliche Wahrnehmung zu kennzeichnen) konstruiert werden – und zwar vom betroffenen Individuum selbst, welches in der Wahl seiner Konstruktionen jedoch wiederum von der Gesellschaft beeinflusst ist. Und das kann genau genommen verschiedene Auswirkungen haben – entweder es gibt noch gar kein Wort für das eigene Empfinden, dann kann daraus entweder der Schluss gezogen werden „so etwas wie mich darf es gar nicht geben“ oder „dann denke ich mir eben selbst etwas aus“, je nach sonstigen Persönlichkeitsmerkmalen im Hinblick auf Kreativität und Mut. Und wiederum, wenn es bereits Begriffe gibt, dann geht entweder „Aha, dann bin ich also *das*“ und es wird versucht, dieser Rolle gerecht zu werden oder sie wird eher verheimlicht, je nach dem wiederum wie positiv oder negativ diese Rolle / der Begriff im Umfeld gewertet wird. Unendlich viele Möglichkeiten der Konstruktion, und im hohen Maße davon abhängig, welche ‚Bausteine‘ jeweils zur Verfügung stehen.
        3. Entsprechend gibt es mehr oder weniger Konfliktpotential zwischen Individuum und Gesellschaft im Umgang mit dieser Feststellung, im falschen Körper zu sein. Und ich gebe dir völlig recht, dass wir gesellschaftlich noch längst nicht so weit sind, dass Transsexuelle Menschen sich da keine Gedanken machen müssten. Das war lediglich ein von mir beschriebener Idealzustand.

      • Stephan Fleischhauer schreibt:

        Sorry nochmal fürs Doppelposting. Offenbar habe ich Probleme mit meiner räumlichen Orientierung. Diese ganzen Antwort-Buttons sind für Männer einfach eine Überforderung.

        Hatte ich noch vergessen:

        Ansonsten hat es speziell im 19. Jahrhundert echt nicht an Versuchen gemangelt, Frauen auf wissenschaftlichem Weg in ihre konstruierten Schranken zu verweisen.

        Du sagtst: „speziell im 19. Jahrhundert“ – bedeutet das nicht, dass der „wissenschaftliche Weg“ inzwischen in eine andere Richtung geht?

        Ich habe ein wenig das Gefühl, dass du mir und Christian misstraust. Du nimmst es uns einfach nicht ab, dass wir Frauen nicht „minderwertig“ finden und dass wir sie nicht runtermachen wollen. Hab ich recht?

      • Stephan Fleischhauer schreibt:

        Es stünden also selbst die (rein hypothetische) biologische Feststellung, dass Schläge auf den Hinterkopf rein neuronal betrachtet das allgemeine Denkvermögen erhöhen und die (rein hypothetische) psychologische Erkenntnis, das Schläge auf den Hinterkopf zu Entmutigung führen und sowohl die situative und langfristige Denkbereitschaft (besonders gegenüber der schlagenden Person) einschränken, NICHT im Widerspruch zueinander.

        Selnstverständlich besteht ein Widerspruch. Je nachdem, welche Folge eintritt – Erhöhung oder Verminderung („Einschränkung“, wie du es formulierst) – trifft die eine Hypothese zu oder die andere. Ich gehe hierbei allerdings davon aus, dass du mit „das allgemeine Denkvermögen“ und „die situative und langfristige Denkbereitschaft“ das gleiche meinst. Ansonsten stellt sich die Frage nach dem Widerspruch ja nicht.

        Vielleicht willst du auch darauf hinaus, dass die Biologen und die Soziologen gar nicht den gleichen Gegenstand untersuchen (mit Gegenstand meine ich hier: Genderverhalten, oder, bezüglich des obigen Beispiels: Denkfähigkeit). Dann müsste sich der Streit – der offenbar nur auf Missverständnissen und nicht auf unterschiedliche Ansichten beruht – ganz einfach lösen lassen.

        Die Evolutionspsychologie macht auf jeden Fall Aussagen, die auch soziologisch relevant sind, z.B. dass Frauen solche Männer bei der Partnerwahl bevorzugen, die sich dominant verhalten. Die Endokrinologie sagt, dass Testosteron Aggressiität erhöht und beim Fötus die spätere sexuelle Orientierung bestimmt. Bei manchen solcher Aussagen geht es nur um statistische Häufungen. Sie können weniger fein als soziologische Voraussagen (z.B. „In Kultur x wird Homosexualität in der Form y ausgelebt“), insofern wären die biologischen Voraussagen“schlechter“, trotzdem betreffen sie den gleichen Gegenstand und können deshalb auch soziologischen Theorien widersprechen, etwa wenn Soziologen meinen, dass biologische Komponenten bei der Partnerwahl, bei Aggressivität oder bei der sexuellen Orientierung keine Rolle spielen.

        Das “tiefere Verständnis” indessen besitzt nur dann eine gewisse Aussagekraft, wenn es zu mehr Viabilität führt, also nachweislich bessere Vorhersagen machen kann.

        Vielleicht hatten wir uns da tatsächlich missverstanden. Ich räume ein, dass soziologische Voraussagen besser sein können als biologische (siehe oben). Wichtig ist vor allem, dass sich die Theorien nicht widersprechen.

        Eine Bitte am Schluss:
        Könntest du mir bitte erklären, wie ein Kind zu der Erkenntnis gelangt, im falschen Körper zu stecken?
        Welcher gesellschaftliche Input kann eine solche Wirkung entfaklten?

      • endolex schreibt:

        Missverständnisse, ja. Den Eindruck habe ich sowieso bei den meisten Debatten dieser und ähnlicher Art. Vielleicht können wir es darauf beruhen lassen, dass Biologen sich zurückhalten können mit Aussagen über gesellschaftliche Zusammenhänge (und moralische Fragen) und Soziologen gar keinen Rückgriff auf biologische Ursachen benötigen, ob sie diese nun leugnen oder mit einbeziehen wollen.

        Könntest du mir bitte erklären, wie ein Kind zu der Erkenntnis gelangt, im falschen Körper zu stecken?
        Welcher gesellschaftliche Input kann eine solche Wirkung entfaklten?

        Wenn wir von dem Fall einer biologischen Disposition zur Transsexualität sprechen: Da würde ich sozusagen als Punkt 1.5 (meiner zuvor genannten drei Punkte) dazwischenschieben: Je mehr das Kind sich dann darüber bewusst wird, dass es verschiedene Geschlechterphänotypen *gibt*, umso eher kann es dieses Empfinden, im falschen Körper zu stecken, herausbilden. Rein hypothetisch gesprochen wäre es also schwieriger, dieses Bewusstsein zu entwickeln, wenn ein anderes Geschlecht als das eigene gar nicht bekannt wäre (z.B. in einer rein weiblichen oder rein männlichen Umgebung, oder wenn ein Kind völlig ohne menschlichen Kontakt aufwüchse).
        Den meisten Menschen dürfte es jedoch nahezu unmöglich sein, keine Vorstellung davon zu konstruieren, welchem Geschlecht sie phänotypisch angehören (abgesehen natürlich von z.B. denen die beides haben, also Intersexuelle).

      • Stephan Fleischhauer schreibt:

        Wenn wir Transsexualität für diesen Fall jetzt mal so definieren, dass aus ‘hormon-genetischen’ Gründen (mal jetzt nur als Platzhalter für alle denkbaren biologischen Dispositionen) ein Mensch andere Geschlechtsorgane ausbildet als ‘eigentlich vorgesehen’

        Ich glaube, andersherum wäre die Betrachtung sinnvoller: Da eine transsexuelle Frau (Frau im Männerkörper) genetisch XY ist und anders herum ein transsexueller Mann XX, würde ich es eher so darstellen, dass das körperliche Erscheinungsbild dem ‘eigentlich vorgesehenen’ Geschlecht entsprecht. Beim transsexuellen Mann kann z.B. die ungewöhnliche sexuelle Identität durch mütterliches Testosteron verursacht sein. Das Kind macht im Mutterleib sozusagen eine Hormonbehandlung durch, ohne dass die eigenen Gene beteiligt sind.

        Wenn du anerkennst, dass die sexuelle Identität durch Hormone im Mutterleib verursacht sein könnte, sind wir schon einen großen Schritt weiter. Wenn du dann noch zustimmst, dass diese sexuelle Identität irreversibel, also nicht mehr durch gesellschaftliche Einflüsse „umpolbar“ ist (der Einfachheit halber gehe ich mal von einer Geschlechterpolarität aus), sind wir uns sogar vollständig einig. Welche Konflikte im einzelnen daraus folgen, ist sicher sehr verschieden, je nach gesellschaftlichem Umfeld. Ich will deinen Ausführungen dazu nicht widersprechen. Man kann aber davon ausgehen, dass die Transsexualität nicht sofort erkannt wird, und deshalb zunächst eine Sozialisierung nach dem körperlichen Erscheinungsbild erfolgt. Es wäre tatsächlich wünschenswert, wenn dies unterbliebe, jedenfalls im Fall transsexueller Kinder. Wenn aber nicht nur die sexuelle Identität, sondern auch das Sozialverhalten durch Hormone (letztlich durch Gene) mitbestimmt wird, sich also – grob gesagt – „typisch mädchenhaftes“ und „typisch jungenhaftes“ Verhalten herausbildet (Aggressivität und Wettkampf vs. Empathie), würden schon die Kinder unter sich geschlechtliche Zuordnungen vornehmen. Inwieweit man gegensteuern kann oder soll, wäre gar nicht so leicht zu beantworten. Ich sehe das als Frage, die demokratisch ausgehandelt werden muss. Die eher geschlechtsneutrale Kindermode der Siebziger ist ja wieder auf dem Rückzug, zulasten der Transsexuellen. (Ich würde es übrigens nicht so sehen, dass das auf Betreiben der Männer um Wiedererlangung der Vorherrschaft beruht.)

        Vielleicht können wir es darauf beruhen lassen, dass Biologen sich zurückhalten können mit Aussagen über gesellschaftliche Zusammenhänge (und moralische Fragen)

        Biologen halten sich aus moralischen Bewertungen meistens raus, aber wenn es dennoch geschieht, hast du natürlich recht. (Als Privatperson darf sich natürlich trotzdem jeder seine Meinung äußern.) Aber was gesellschaftliche Zusammenhänge anbelangt – diesen Bereich haben Soziologen nicht für sich gepachtet.

        Soziologen [benötigen] gar keinen Rückgriff auf biologische Ursachen

        Ein Gegenbeispiel. Angenommen, es geht um Drogenpolitik – da gibt es z.B. Drogen, die toleranzerzeugend sind (der Körper braucht immer mehr davon), und andere, die es nicht sind. Das kann man sicher auch soziologisch feststellen, indem man einfach das Verhalten von Drogensüchtigen genau beobachtet. Aber wenn medizinische Erkenntnisse hier ein besseres Verständnis ermöglichen, warum sollte der Soziologe dann darauf verzichten zu sagen: „Die medizinischen Erkenntnisse rechtfertigen eine Ungleichbehandlung der Drogen.“ Eine gewisse Interdisziplinarität finde ich da schon geboten.

      • endolex schreibt:

        Wenn du anerkennst, dass die sexuelle Identität durch Hormone im Mutterleib verursacht sein könnte, sind wir schon einen großen Schritt weiter. Wenn du dann noch zustimmst, dass diese sexuelle Identität irreversibel…

        Ich tu mich ziemlich schwer damit, einen Begriff wie ’sexuelle Identität‘ auf direktem Wege biologisch beschreibbar machen zu wollen. Aber womit ich sicher kein Problem hätte, wäre die Aussage: „Pränatale Hormonspiegel können postnatale Hormonspiegel beeinflussen, und Hormone sind wiederum ein Faktor in menschlichem Erleben und Verhalten.“

        Biologen halten sich aus moralischen Bewertungen meistens raus, aber wenn es dennoch geschieht, hast du natürlich recht. (Als Privatperson darf sich natürlich trotzdem jeder seine Meinung äußern.)

        Ja, das habe ich etwas unglücklich formuliert in dem Fall. Ich meine nicht die Wissenschaftler als Personen, sondern einfach die Kategorien an sich, welche nicht durcheinandergeworfen werden sollten (Thema des Blogposts), egal von wem.

        Aber was gesellschaftliche Zusammenhänge anbelangt – diesen Bereich haben Soziologen nicht für sich gepachtet. / Eine gewisse Interdisziplinarität finde ich da schon geboten.

        Natürlich gibt es da nicht nur Soziologie für gesellschaftliche Betrachtungen, so meinte ich das durchaus nicht. Man kann Gesellschaft je nach Fragestellung durchaus auch politikwissenschaftlich, kulturwissenschaftlich, medienwissenschaftlich, sozial- bzw. massenpsychologisch oder auch rein demografisch oder gar verkehrstechnisch, ökonomisch, bildungswissenschaftlich usw. usw. betrachten. Nur bei (Verhaltens)biologie oder Evolutionspsychologie, bzw. vielmehr bei ihrer populären Anwendung auf gesellschaftliche Fragen (meist zum Zweck eines reaktionären Bekämpfens oder Infragestellens wahrgenommener „Gleichmacherei“ und „Umerziehung“ bleibe ich – sehr vorsichtig ausgedrückt – skeptisch.

        Grundsätzlich sind interdisziplinäre Theorien gerade in den Humanwissenschaften keine Seltenheit, und auch dann handelt es sich immer um maßgeschneidertes Kombinieren von Methoden, auf die jeweils zu untersuchenden Probleme angepasst, um eben das Verhältnis Theorieaufwand / Erkenntnisgewinn zu optimieren).
        Das mit den Drogen ist wie ich finde aber kein gutes Beispiel dafür, weil hier ja für die soziologische Untersuchung von gesellschaftlichem Suchtverhalten („Drogensoziologie“?) keine wirkliche Theorieerweiterung stattfindet sondern sozusagen nur ‚fertige‘ Forschungsergebnisse aus der Medizin verwendet werden – für die soziologische Fragestellung und Methodik interessiert aber in dem Fall nicht, auf welche Weise medizinisch genau der Körper nun abhängig von der jeweiligen Substanz wird oder nicht, es genügt die Zuordnung „Droge x macht im Grad y abhängig“.

        Sehr lohnend ist da aber evtl. ein Blick in die -> http://de.wikipedia.org/wiki/Medizinsoziologie, gerade im Hinblick auf das Kombinieren medizinischer und soziologischer Ansätze.

        So. Sieh es mir bitte nach, wenn ich an dieser Stelle einen verbindlichen Schlussstrich ziehe – das eigentliche Thema des Blogposts haben wir aus meiner Sicht längst hinter uns gelassen, und ich benötige meine Zeit noch für andere Dinge. Dir geht es vermutlich nicht anders.

      • Stephan Fleischhauer schreibt:

        Kleine Ergänzung: Vielleicht wird irgendwann eine Frühdiagnose für Transsexualität möglich. Dann wäre natürlich ein ähnliches Dilemma wie heute schon beim Down-Syndrom möglich. Ich sehe durchaus negative Aspekte des immer weiteren Wissenzuwachses. Aber das ist ja nichts neues.

      • Stephan Fleischhauer schreibt:

        Ich muss mich auch mal bedanken für die deine Geduld. Ich würde mir wünschen, dass so eine Diskussion, wie wir sie geführt haben, viel häufiger möglich wäre, es würde das gegenseitige Verständnis weiterbringen. Ich finde jedenfalls, dass wir uns hier durchaus angenähert haben, und das ist schon was wer, auch wenn’s anstrengend war.

        Nur bei (Verhaltens)biologie oder Evolutionspsychologie, bzw. vielmehr bei ihrer populären Anwendung auf gesellschaftliche Fragen (meist zum Zweck eines reaktionären Bekämpfens oder Infragestellens wahrgenommener “Gleichmacherei” und “Umerziehung”) bleibe ich – sehr vorsichtig ausgedrückt – skeptisch.

        Ich hoffe ja, dass mal du stärker trennst zwischen Biologie und deren Auslegung durch Leute, die damit nur ihr Paschagehabe rechtfertigen wollen. Da ist auch eine Diskussion nötig, wie man das verhindert. (Und ich will nicht behaupten, dass man das vollständig verhindern kann.) Aber das rechtfertigt eben keinen Skeptizismus gegenüber der Biologie an sich.

  4. susanna14 schreibt:

    Um zu sehen, dass Homosexualität und Heterosexualität stark kulturell überformt sind, braucht man doch nur mal 100 Jahre zurückzugehen. Gerade gestern habe ich eine Sammlung von Photos gesehen, die Männer in Situationen zeigt, die heute sehr selten sind, wenn die betreffenden Männer nicht als schwul gelten wollen. Alternativ kann man auch einfach nach draußen gehen und Männer aus anderen Kulturen beobachten, wozu man heutzutage ja nicht mehr auf einen anderen Kontinent reisen muss. Gestern sah ich zwei in der Uni, eng einandergelehnt, die anscheinend miteinander irgendwelche Übungsaufgaben rechneten. (Ich möchte da auch nicht danebenstehen und beobachten.)

    Ich habe bei dieser Gelegenheit auch mal eines von meinen alten pre-Butler-feministischen Büchern aus dem Schrank geholt, nämlich „Inspektion der Herrenkultur“ von Luise Pusch, und darin ein Aufsatz über von Judith Offenbach (Pseudonym von Luise Pusch), in dem sie schildert, wie sich ihre Einstellung zu ihrem Lesbischsein änderte: Erst wurde ihr gesagt, es sei Sünde, dann, es sei eine Krankheit, dann, es sei Veranlagung, ähnlich wie Linkshändigkeit, und dann kam die zweite Welle des Feminismus mit Sprüchen wie „Feminismus ist die Theorie, Lesbischsein die Praxis. Lesbischsein erschien jetzt als eine Wahl. („Feminismus – Heterosexualität – Homosexualiät“, S. 210-232)

    Ich würde nicht so weit gehen – in wen wir uns verlieben und wen wir sexuell anziehend finden, ist nur zu einem kleinen Teil bewusste Entscheidung, aber eben auch nicht nur abhängig von irgendwelchen Pheromonen. (Und das gilt auch für kurzfristige Attraktivität.)

    Meine persönliche Meinung: die Debatte, ob Homosexualität natürlich ist oder nicht, ist in meinen Augen komplett überflüssig. Sie ist wichtig, wenn wie in den USA sehr start religiös argumentiert wird, und wenn die Bibel nichts mehr hergibt, auf die „Natur“ zurückgegriffen wird, die schließlich Gottes Schöpfung sei. Wenn säkular argumentiert wird, gibt es keinen Grund, einen Unterschied zwischen Heterosexualität und Homosexualität auf der rechtlichen Ebene zu machen. Dann gibt es kein Problem, wenn jemand sich entscheidet, lesbisch oder schwul zu sein, solange es sich um eine freiwillig eingegangene Beziehung zwischen zwei erwachsenen Menschen handelt. Nur wenn man unter Druck steht, zu beweisen, dass man nicht anders kann.

    Rein biologische Betrachtungen zu einem Sachverhalt können keinen moralischen Imperativ bilden, wie es grundsätzlich zu bewerten und damit umzugehen ist. Nur weil etwas angeboren ist, wird es nicht automatisch ‘akzeptabler’ – dann wird es im Zweifelsfall eben als Geburtsfehler betrachtet, was zu noch hässlicheren Reaktionen als “Heilungsversuchen” führen kann.

    Ein Exfreund von mir, der Philosoph war, hat mir einmal erklärt, dass die Argumentationsweise, die du kritisierst, sogar einen Namen hat: Naturalistischer Fehlschluss. Daraus, dass etwas ist, folgt nicht, dass es sein soll. Mein Exfreund hat mir erklärt, dass schon Hume das widerlegt hat: keine logische Operation transformiert das Wort „sein“ in das Wort „sollen“.

    • Stephan Fleischhauer schreibt:

      […] habe ich eine Sammlung von Photos gesehen, die Männer in Situationen zeigt, die heute sehr selten sind, wenn die betreffenden Männer nicht als schwul gelten wollen. Alternativ kann man auch einfach nach draußen gehen und Männer aus anderen Kulturen beobachten […]

      Ich glaube schon, dass Gesellschaften dazu neigen, gewisse Standards auszuprägen. In Europa gilt es als höflich, sich die Hand zu geben, in Ostasiatischen Ländern würde man das eher nicht tun. Das kann sich natürlich vermischen, wenn Kulturen in engeren Kontakt kommen, aber auf lange Sicht würde sich wahrscheinlich wieder ein Standard durchsetzen. Körpersprache ist eben auch Sprache, und wenn die nicht relativ streng normiert wäre, könnten wir uns hier gar nicht so gut unterhalten.

      Bei Flirtverhalten ist das wohl nicht wesentlich anders.

    • „Naturalistischer Fehlschluss. Daraus, dass etwas ist, folgt nicht, dass es sein soll.“

      Das ist vollkommen richtig. Wir können aus dem Umstand, dass Homosexualität biologisch bedingt ist nicht schließen, dass sie „gut“ ist. Krebs ist ja schließlich auch „biologisch bedingt“. Aber dennoch beantworten sich aus der Biologie viele Fragen und es raubt der Gegenseite einiges an Argumenten.
      Radikalen Christen kann man entgegenhalten, dass der göttliche Bauplan es vorsieht
      Radikalen Eltern kann man entgegenhalten, dass es ihre Gene sind
      Radikalen Umerziehern kann man entgegenhalten, dass es schlichtweg nicht zu ändern, allenfalls zu unterdrücken ist.

      Aus meiner Sicht erzeugt ein Verständnis der Vorgänge oft auch Verständnis an sich. Wenn wir wissen, dass es eben so ist, dann akzeptieren wir bestimmte Sachen eher.

      • susanna14 schreibt:

        Radikalen Christen kann man entgegenhalten, dass der göttliche Bauplan es vorsieht
        Radikalen Eltern kann man entgegenhalten, dass es ihre Gene sind
        Radikalen Umerziehern kann man entgegenhalten, dass es schlichtweg nicht zu ändern, allenfalls zu unterdrücken ist

        Stimmt alles: Das sind m.E. auch die Gründe, warum es in den USA noch so wichtig ist, darauf zu bestehen, dass Homosexualität natürlich ist, unabhängig von den genauen Mechanismen, die Homosexualität verursachen.

        Es gibt aber eben noch ein anderes Argument, das ohne Biologie auskommt: Homosexuelle Aktivitäten, denen beide Beteiligten zustimmen, schaden niemandem, und sollten daher nicht strafbar sein. Es gibt keinen logischen Grund, sie rechtlich anders zu stellen als heterosexuelle Aktivitäten.

        Dieses Argument hat den großen Vorteil, dass es Versuchte, Homosexualität zu heilen ausschließt. Wenn das einzige Argument darin besteht, dass Homosexualität natürlich ist, dann schließt das nicht aus, nach Heilungsmethoden zu suchen, die möglicherweise die Kontrolle des Hormonspiegels des Fetus und der Schwangeren einschließen und dadurch effektiver sind als die gegenwärtigen vom Umerziehungsversuche. (Denn wie du schon gesagt hast, dass etwas natürlich ist, heißt nicht automatisch, dass man es nicht heilen soll. Echte Krankheiten, etwa einen angeborenen Herzfehler, heilt man ja schließlich auch.)

    • Stephan Fleischhauer schreibt:

      […] in wen wir uns verlieben und wen wir sexuell anziehend finden, ist nur zu einem kleinen Teil bewusste Entscheidung, aber eben auch nicht nur abhängig von irgendwelchen Pheromonen.

      Es ist auch nicht gesagt, dass die biologischen Hintergründe vollständig geklärt sind. Aber wenn das Verlieben sozial begründet sein soll, dann müssten wir ja „gelernt“ haben, uns verlieben. Ich finde diese Vorstellung nicht unbedingt plausibler.

      Ich habe den Verdacht, dass viele Misserständnisse in der Diskussion auf die Vorstellung eines Körper-Geist-Dualismus zurücklaufen, in der die Welt des Geistes von der körperlichen getrennt und darum nicht wissenschaftlich erklärbar ist.

    • Christian schreibt:

      @Susanna

      „Um zu sehen, dass Homosexualität und Heterosexualität stark kulturell überformt sind, braucht man doch nur mal 100 Jahre zurückzugehen. Gerade gestern habe ich eine Sammlung von Photos gesehen, die Männer in Situationen zeigt, die heute sehr selten sind, wenn die betreffenden Männer nicht als schwul gelten wollen.“

      Vielleicht sollte man trennen:
      1. Homosexualität bedeutet erst einmal, dass man Menschen des gleichen Geschlechts sexy findet. Dazu hatte ich diverse biologische Theorien angeführt. Diese erklären meiner Meinung nach Homosexualität hinreichend.
      2. Welches Verhalten zeigen Homosexuelle häufig
      Auch hier gibt es einiges an biologischen Theorien. Schwule können sich eher männlich oder eher weiblich Verhalten, weil die Zentren zu verschiedenen Zeiten und evtl auch mit verschiedenen Stärken ausgestaltet werden.
      Das scheint gewisse Tendenzen vorzugeben. Wie stark und in welcher Form man diese Ausleben kann scheint aber auch kulturell ausgestaltet zu sein.
      3. welches Verhalten gilt als Anzeichen für Homosexualität?
      Das hängt eben auch wieder von kulturellen Ausgestaltungen ab. Hier kann zu bestimmten Zeiten mehr Körperkontakt unproblematisch gewesen sein als heute. Das ist aber aus meiner Sicht kein Anzeichen dafür, dass man damals Homosexualität unkritischer gesehen hat (eher im Gegenteil), man hat nur einfach die Berührung unsexueller gesehen, vielleicht sogar aufgrund der Ächtung der Homosexualität, die damit gar nicht zur Debatte stand.

      „aber eben auch nicht nur abhängig von irgendwelchen Pheromonen“

      Richtig. Aber die Attraktivität anderer Pheromone ist auch nur eine andere Struktur im Gehirn, die auf diese reagiert. Andere Punkte, wie eben zB eingespeicherte Attraktivitätsmerkmale, bestimmen ebenfalls, was wir attraktiv finden

      • susanna14 schreibt:

        Ich habe jetzt die Stelle gefunden, wo du die biologischen Theorien erklärst. Was mir erstens daran auffällt, ist, dass in ihnen die Uralt-Theorie, dass Lesben vermännlichte Frauen und Schwule verweiblichte Männer sind, fröhliche Urständ feiert. Außerdem beschreiben die von dir genannten Theorien alle Homosexualität als etwas, das entsteht, weil etwas schiefläuft. (Das sind Punkte, die noch nichts zur wissenschaftlichen Qualität dieser Theorien sagen – es fällt halt nur so auf.)
        Von einem Zentrum für die Geschlechterrolle habe ich noch nie gehört, und es würde mich auch wundern, weil Geschlechterrolle sehr unterschiedliche Bereiche menschlichen Denkens, Fühlens und Verhaltens betrifft. Oder geht es nur um das Wissen „Ich bin ein Mann/eine Frau“? Ich bin jetzt aber keine Expertin für Hirnforschung, sondern lese nur die Artikel in „Spektrum der Wissenschaft“ (und dort auch immer seltener, weil ich Kosmologie interessanter finde.)
        Um die Ernsthaftigkeit dieser Theorien nachzuprüfen, müsste ich die Links zu den Originalquellen haben. Andererseits weiß ich noch nicht, wie viel Zeit ich in diese Debatte invstiereen will.

        Das entscheidende aber, was ich versucht habe, mit meiner Serie an Bildern zu erklären, ist das Folgende: Die Grenzen zwischen sexuellem Verhalten und Verhalten, das rein freundschaftlich ist, sind fließend, was sich schon daran zeigt, dass es in unterschiedlichen Kulturen und zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich definiert wurde. „Menschen des gleichen Geschlechts sexy finden“ ist als Definition von Homosexualität m.E. schwierig, und klingt für mich im Moment auch zu umgangssprachlich, um überhaupt als Definition zu taugen. Aber auch „sich zu Menschen des gleichen Geschlechts sexuell hingezogen finden“ reicht meiner Meinung nach nicht aus – was ist mit mehr romantischen Gefühlen, der Sehnsucht nach Nähe, nach Seelenharmonie, Geistesverwandtschaft? Wenn wir dies mit hineinnehmen (und für das 19. Jahrhundert sind solche Ausdrücke möglicherweise angemessener als „sexy finden“ – dann wird die Grenze zwischen Freundschaft und Verliebtheit fließend.

        Kurz gesagt: was als sexuelle/romantische/erotische Anziehung gilt, ist kulturell bestimmt. In diesem Sinn ist Homosexualität als Aktivität eine Konstruktion.

        Homosexualität ist aber auch als Eigenschaft von Personen eine Konstruktion. Zu anderen Zeiten und Kulturen war es viel häufiger, dass Menschen sowohl heterosexuellen als auch homosexuellen Aktivitäten nachgingen. Die Vorstellung, dass es eine Gruppe von Menschen gibt, die ganz klar homosexuell sind, während es auf der anderen Seite eine (deutlich größere) Gruppe von heterosexuellen Menschen gibt, und dass beide Gruppen klar getrennt sind, ist eine neue Entwicklung. Meine persönliche Vermutung ist die, dass auch der politische Bewegung für eine Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben dazu geführt hat, dass man die Gruppen so klar trennt: für eine politische Auseinandersetzung sind klare Grenzen zwischen den beiden Parteien hilfreich. Vielleicht löst sich diese klare Trennung auf, wenn mehr Gleichberechtigung erreicht ist, so dass ein Mensch zwischen Homosexualität und Heterosexualität hin- und herwechseln kann, und vielleicht nimmt dann auch Bisexualität zu (oder Pansexualität – ein Wort, das ich vor ein paar Jahren gelernt habe.)

  5. Stephan Fleischhauer schreibt:

    Es gibt ja genügend Beispiele dafür, dass Menschen den Pfad ihrer biologischen Vorfahren verlassen: Statt ihre Aggressionen auszuleben, verbannen Menschen diese in ihre Phantasie und überlassen das übrige dem Rechtsstaat. Moderne Wissenschaft wäre ein einer Gesellschaft fester Rangordnungen kaum möglich, deshalb wurden zu Zeiten des Adels Universitäten geschaffen mit einem besonderem Umfeld von Freiheiten und Einschränkungen (flache Hiearchien, strenge wissenschaftl. Methodik). Der Mensch steht immer auch im Kampf mit seiner Biologie. Das geht nicht beliebig.

    Abweichen vom gesellschaftlichen Normverhalten muss nicht grundsätzlich von der Gesellschaft bestraft werden. Hab mal von einer These gehört, dass Schizophrene als Wahrsager hoch geachtet wurden, keine Ahnung, was da dran ist. Ich glaube aber nicht, dass es wirklich große Unterschiede gibt, was als “normal” oder “abweichend” gilt – nur bei der Frage, wie Gesellschaften abweichendes Verhalten sanktionieren, dürften die Unterschiede größer sein, was aber nichts daran ändert, dass es ein Normverhalten gibt.

    Gerade beim Sexualverhalten wäre es doch plausibel, dass sich noch sehr archaische Muster erhalten haben. Denn wir können zwar unser kulturelles Umfeld zu einem großen Teil selbst formen. Aber an dem Flaschenhals Keimzelle kommen wir nicht vorbei. Ohne sexuelle Erregung der Männer kann praktisch kein Nachwuchs gezeugt werden (wie kommt man an Spermien ohne Orgasmus?). Und können Männer sich frei (rational?) aussuchen, wer (oder was) sie zum Orgasmus stimuliert?

    Auch der Aspekt der langfristigen, stabilen Bindung ist biologisch bedeutend (der Nachwuchs profitiert von aufwendiger Erziehung). Warum also sollte sich ein lang andauerndes Liebesleben nicht biologisch begründen lassen? Ist ebenso eine Form von Verhalten, das genetisch bedingt sein kann, nicht anders als der Begattungsakt.

    Man kann untersuchen, inwieweit z.B. sexuelle Attaktivitätsmuster über Epochen und Kulturen verbreitet sind und diese mit evolutionsbiologischen Theorien in erbindung bringen (etwa hohes Durchsetzungsermögen und hoher Status beim Mann, weibliche Rundungen, ein ebenmäßiges Gesicht und empathisches Sozialverhalten bei der Frau). Die Attraktitätsmuster entfalten womöglich ihrerseits wieder kulturelle Wirkungen (patriarchale Gesellschaft) usw. Selbst wenn das erstmal recht grobe Muster sind, die die zukünftige Entwicklung der menschlichen Gesellschaft behindern, kann man nicht grundlos davon ausgehen, dass die Evolutionsbiologie hier falsche Voraussagen macht. Man muss das aufrichtig und ohne moralische Vorbehalte untersuchen.

    Die Frage, wie den Stereotypen, Vorurteilen und Diskriminierungen zu begegnen ist, gehört in eine andere Katregorie, es ist eine Frage gesellschaftlicher Ethik. Da mag eine Menge möglich sein, wenn die Gesellschaft mitzieht. Ich sehe das aber nicht nur als Befreiung, sondern auch als Kampf mit der eigenen Biologie, siehe oben. Man sollte nicht unterschätzen, worauf man sich einlässt. Da möchte ich z.B. den Menschen sehen, der gegen seine eigene Verliebtheit handelt, und sich bewusst für eine andere Person entscheidet, weil die benachteiligt ist.

    Du schreibst: „Eine auf biologischen Grundlagen stattfindende Argumentation hierüber liefe eben, auf individuelle Ebene gezogen, darauf hinaus, vor allem anhand von Genetik und Hormonen zu entscheiden ob man das Verhalten von jemandem (oder die Person selbst) als ‘normal’ bzw. ‘natürlich’ bewerten sollte oder nicht. Und darum kann es aus meiner Sicht in gesellschaftlichen Fragen nicht gehen.“

    Machen wir das nicht ohnehin schon? Die durch Gentest gestellte Diagnose Down Syndrom erlaubt z.B. Abtreibung, um mal ein richtig krasses Beispiel zu nennen. Wie stehst du dazu? Es ist auch letztlich egal, ob man eine Person als ‘normal’ oder ‘nicht normal’ bezeichnet. Du siehst darin eine Wertung, aber das ist relativ. Was heute ein neutraler Begriff ist, kann morgen stigmatisiernd sein. Eine Gesellschaft, in der niemand diskriminiert wird, wäre eine Utopie, auch wenn ich sie genauso wünschenswert finde. Es geht da eher um die richtige Abwägung. Wieviel Gleichheit zwischen den Geschlechtern ist die richtige?

    War Moraldiskussion eigentlich Thema?

    Noch was anderes: Ich habe den Eindruck, dass da ein grundsätzliches Unbehagen besteht, Kategorien wie Leben, Persönlichkeit, Bewusstsein rein materialistisch-naturwissenschaftlich zu betrachten. Lebenwesen = Replikatoren; höhere Lebewesen = weiter mutierte und selektierte Replikatoren. Liegt da vielleicht ein Problem?

    • endolex schreibt:

      Der Mensch steht immer auch im Kampf mit seiner Biologie. Das geht nicht beliebig.

      Behaupte ich auch gar nicht. 🙂 Und ein Kampf wird es ja z.B. bei diesem Thema nur dann, wenn gesellschaftlich einschränkende Vorstellungen eindeutiger sexueller Identitäten existieren.

      Abweichen vom gesellschaftlichen Normverhalten muss nicht grundsätzlich von der Gesellschaft bestraft werden. Hab mal von einer These gehört, dass Schizophrene als Wahrsager hoch geachtet wurden, keine Ahnung, was da dran ist. Ich glaube aber nicht, dass es wirklich große Unterschiede gibt, was als “normal” oder “abweichend” gilt – nur bei der Frage, wie Gesellschaften abweichendes Verhalten sanktionieren, dürften die Unterschiede größer sein, was aber nichts daran ändert, dass es ein Normverhalten gibt.

      Genau darum geht es ja. Möglicherweise meinst du die Swamis, von denen Watzlawick im Rahmen eines Aufenthaltes in Indien berichtete? Kultureller Umgang mit geistigen und körperlichen Behinderungen variiert sehr stark, sowohl regional als auch zeitlich. Allein schon das Wort ‚barrierefrei‘ ist bei uns ja in seiner Verbreitung eine relativ neue Erscheinung, wie ich meine. Biologie entscheidet nicht darüber, was als „gesellschaftliches Normverhalten“ gilt. Das bereits ist eine gesellschaftliche Konstruktion (sonst bräuchten wir keinerlei Gesetzgebung, welche von Land zu Land in zig Lebensbereichen ja ebenfalls stark variiert).

      Gerade beim Sexualverhalten wäre es doch plausibel, dass sich noch sehr archaische Muster erhalten haben. Denn wir können zwar unser kulturelles Umfeld zu einem großen Teil selbst formen. Aber an dem Flaschenhals Keimzelle kommen wir nicht vorbei. Ohne sexuelle Erregung der Männer kann praktisch kein Nachwuchs gezeugt werden (wie kommt man an Spermien ohne Orgasmus?). Und können Männer sich frei (rational?) aussuchen, wer (oder was) sie zum Orgasmus stimuliert?

      Diese ‚archaischen‘ Muster beziehe ich allerdings rein auf die körperliche Fähigkeit zur sexuellen Erregung und den Orgasmus. Da offensichtlich auch homosexuelle Männer in der Lage sind, Kinder zu zeugen, sehe ich da keinen Widerspruch. Von einem ‚freien Aussuchen‘ gehe ich gar nicht aus, das täte ich nicht einmal dann wenn ich ausschließlich gesellschaftliche Einflüsse annehmen würde – denn gesellschaftlichen Einflüssen kann man sich gar nicht komplett entziehen. Unser Umfeld beeinflusst in hohem Maße unsere Fähigkeit zur Willensbildung – das abzustreiten hieße, den Sinn jeglicher Schul- oder anderer Bildung anzuzweifeln. Ein ‚völlig freier‘ Wille im Sinne von ‚unabhängig von biologischen oder gesellschaftlichen Einflüssen‘ hingegen ist Quark. Wille an sich ist bereits ein relativer Vorgang. Mehr dazu, auch im Hinblick auf das grundsätzliche Problem (anhand des Beispiels: Kann Neurowissenschaft etwas über freien Willen aussagen? hier: http://www.spiegel.de/spiegel/a-336006.html

      Warum also sollte sich ein lang andauerndes Liebesleben nicht biologisch begründen lassen? Ist ebenso eine Form von Verhalten, das genetisch bedingt sein kann, nicht anders als der Begattungsakt.

      Biologische Faktoren – in gewissem Umfang kein Problem. Vorstellen könnte ich mir da beispielsweise die Frage nach dem Kinderwunsch und der Zeugungsfähigkeit (aber eigentlich auch nur in Verbindung mit der soziopsychologischen Fragestellung der Akzeptanz von Adoption oder Leihmutterschaft). Ausschließlich biologische Begründung (also Biologismus) – sehr fragwürdig. Das hieße in etwa, man kann mit genügend Entschlüsselung des Genoms anhand von Gentests ermitteln, wer ein Leben lang miteinander glücklich wird. Halte ich für Quark.

      Selbst wenn das erstmal recht grobe Muster sind, die die zukünftige Entwicklung der menschlichen Gesellschaft behindern, kann man nicht grundlos davon ausgehen, dass die Evolutionsbiologie hier falsche Voraussagen macht. Man muss das aufrichtig und ohne moralische Vorbehalte untersuchen. /

      Die Frage, wie den Stereotypen, Vorurteilen und Diskriminierungen zu begegnen ist, gehört in eine andere Katregorie, es ist eine Frage gesellschaftlicher Ethik.

      Gebe ich dir völlig Recht. Mein Problem sind eben Haltungen, die sich auf Wirkmuster der Evolutionspsychologie berufen und sagen: So ist das, so muss das sein und auch bleiben, daran lässt sich kulturell nichts ändern, weil fest biologisch verdrahtet. Dass du das beispielsweise nicht so zu sehen scheinst, empfinde ich da als positiv. Zum Kampf gegen die Biologie habe ich ja bereits oben etwas geschrieben. Ich habe auch bis heute keine brauchbare (d.h. kultur-unabhängige) Definition über den Ursprung und das Wesen von ‚Verliebtheit‘ finden können, weder biologisch noch psychologisch.

      Machen wir das nicht ohnehin schon? Die durch Gentest gestellte Diagnose Down Syndrom erlaubt z.B. Abtreibung, um mal ein richtig krasses Beispiel zu nennen. Wie stehst du dazu? Es ist auch letztlich egal, ob man eine Person als ‘normal’ oder ‘nicht normal’ bezeichnet. Du siehst darin eine Wertung, aber das ist relativ. Was heute ein neutraler Begriff ist, kann morgen stigmatisiernd sein. Eine Gesellschaft, in der niemand diskriminiert wird, wäre eine Utopie, auch wenn ich sie genauso wünschenswert finde. Es geht da eher um die richtige Abwägung. Wieviel Gleichheit zwischen den Geschlechtern ist die richtige?

      Die durch Gentest gestellte Diagnose Down Syndrom erlaubt die Erkenntnis, dass ein Kind vermutlich Down Syndrom haben wird. Eine ‚Erlaubnis‘, Abzutreiben, kann diese Erkenntnis nicht auf direktem Wege geben. Sonst gäbe es nämlich keine großen Debatten darüber, ob Abtreibung unter diesen Umständen erlaubt sein soll oder nicht. Wie ich mich da selbst positioniere (pro Erlaubnis zur Abtreibung, btw.) spielt da auch gar keine Rolle – für mich ist es ein Beleg, dass aus biologischen Erkenntnissen keine ethischen Prinzipien folgen. Biologische Erkenntnisse erweitern das Wissen über die Konsequenzen unseres Handelns, so wie jedes Wissen. Wie wir uns aber entscheiden, welche Entscheidung und welche Konsequenz wir als ‚gut‘ erachten – das ist vor allem gesellschaftliche Konstruktion auf vielen verschiedenen Ebenen.
      Ich finde, es ist ganz und gar nicht egal, ob etwas als ’normal‘ oder ’nicht normal‘ gilt. Ohne diese Unterscheidung wäre Diskriminierung ja schlichtweg nicht möglich, wenn der Unterschied gar nicht festgemacht werden kann. Die Wandlung eines Begriffes von neutraler Bezeichnung zur Stigmatisierung ist eine Wandlung des Begriffsinhaltes und seiner wertenden Sprachverwendung. Ein kultureller Prozess also, der aber keinen Beliebigkeiten unterworfen ist, sondern recht gut nachzuvollziehenden (und beeinflussbaren) soziokulturellen Entwicklungen.
      Natürlich ist eine Gesellschaft, in der niemand diskriminiert wird, Utopie. Auf individueller Ebene werden wir wohl immer unserem stereotypisierenden Denken größtenteils ausgeliefert sein, auch wenn eine Menge gewonnen werden kann, wenn wir unser eigenes Denken kritisch beobachten und in entscheidenden Fragen nochmals auf kognitive Verzerrungen abklopfen. Aber eine Gesellschaft, in der eine *strukturelle* Diskriminierung minimiert wird, die halte ich für nicht so unrealistisch. Entsprechend lautet meine Frage nicht: Wie viel Gleichheit zwischen den Geschlechtern ist die richtige? Sondern: In welchem Maße stellen *wir* gesellschaftliche Ungleichheit her, und wie können wir damit möglichst aufhören?

      War Moraldiskussion eigentlich Thema?

      Thema ist nach wie vor die Frage, inwieweit biologische Erkenntnisse entscheidend sein können für die ethische Betrachtungen.

      Noch was anderes: Ich habe den Eindruck, dass da ein grundsätzliches Unbehagen besteht, Kategorien wie Leben, Persönlichkeit, Bewusstsein rein materialistisch-naturwissenschaftlich zu betrachten. Lebenwesen = Replikatoren; höhere Lebewesen = weiter mutierte und selektierte Replikatoren. Liegt da vielleicht ein Problem?

      Ich bin sehr fasziniert von Biologie und überhaupt jeder Wissenschaft, welche aus verschiedenen Perspektivn Theorien über menschliches Erleben bildet. Unbehagen stellt sich bei mir ein, wenn diese Ebenen auf unzulässige Weise vermischt werden, wenn ethische Fragen mit Biologie versucht werden zu beantworten, und umgekehrt hätte ich ähnliche Bauchschmerzen wenn jemand sagen würde „Es kann nicht sein, dass homosexuelles Verhalten biologische Einflüsse hat, denn homosexuelles Verhalten ist grundfalsch!“

      • Christian schreibt:

        @endolex

        „Ausschließlich biologische Begründung (also Biologismus) – sehr fragwürdig. Das hieße in etwa, man kann mit genügend Entschlüsselung des Genoms anhand von Gentests ermitteln, wer ein Leben lang miteinander glücklich wird. Halte ich für Quark.“

        Natürlich kann man das nicht so direkt sagen. Aber man kann Faktoren ermitteln, die üblicherweise die Wahrscheinlichkeit einer glücklichen Beziehung erhöhen. Viele Charaktereigenschaften, etwa die „Big Five“ haben starke genetische Komponenten. Wenn bestimmte Ausprägungen von Charaktereigenschaften in Kombination die Wahrscheinlichkeit einer glücklichen Beziehung erhöhen, dann hat das eben auch – bezogen auf die Wahrhscheinlichkeit – eine biologische Komponente

      • endolex schreibt:

        Eine biologische Komponente, jup, stelle ich gar nicht in Frage. Nur das ist eben Welten entfernt von ‚größtenteils biologisch determiniert‘.

  6. Stephan Fleischhauer schreibt:

    Werd da nochmal drauf antworten. Allmählich wird ja klarer, wo sich unsere Sichtweisen decken und wo sie sich evtl. unterscheiden.

    Aber erstmal eine kurze Nachfrage:
    Wo findet man eigentlich diesen „Biologismus“, der alles kulturelle ausblendet, der sagt „das ist so und muss so bleiben“? Ist dieser Biologismus in der aktuellen Gender-Debatte in relevantem Ausmaß vertreten? Wenn ja, wo?

    Ich habe den Eindruck, dass Leute wie Christian schon als „Biologisten“ gelten. Vertritt er nicht schon den „extremen“ Gegenpol zu den Genderfeministen? Vielleicht kannst du ja mal ein konkretes Beispiel für einen Biologisten nennen oder für aktuelle biologistische Theorien.

    • endolex schreibt:

      Ich rede eigentlich nicht von ‚den Biologisten‘ in Form von Personen. Ich spreche vor allem über biologistische Sichtweisen (von denen gab es in der Vergangenheit immer genügend, wenn es darum ging, Ungleichbehandlung in der Gesellschaft zu rechtfertigen und Gleichstellungsbemühungen zu diskreditieren, von „Schwarze sind genetisch dümmer“, „die arische Rasse ist den anderen überlegen“ bis eben „Frauen können nicht so gut denken, weil ihre Gehirne kleiner sind, und müssen daher nicht das gleiche Maß an Mündigkeit haben“).
      Christians Beiträge auf seinem Blog würde ich durchaus insfoern als von Biologismus geprägt ansehen, dass er sehr oft biologische Studien als primäre Erklärung für gesellschaftliche Zusammenhänge heranzieht und daraus folgend Kritik an gesellschaftlichen Bewegungen ableitet, gesellschaftliche Zustände zu ändern. Ich halte das aber vor allem für eine Reaktion auf seine persönliche Wahrnehmung der ‚Gleichmacherei‘ und der ‚Wissenschaftsfeindlichkeit‘ dieser Bewegungen – denn er kommt ja an sich in vielen Punkten zu ähnlichen ‚moralischen‘ Ergebnissen wie ich, z.B. wenn es um die fehlende Grundlage für Abwertung und Diskriminierung von Homosexualität und entsprechender ‚Heilversuche‘ geht – meine Kritik gilt auch entsprechend nicht so sehr einigen seiner Resultate, sondern dem „Erkenntnisweg“ an sich. Wie ich da schon einmal schrieb: Ich könnte für mich auch dann keine ‚biologisch begründete‘ Moral akzeptieren, wenn sie mir persönlich zusagte.

      Falls du mit ‚Genderfeminismus‘ die begriffliche Trennung zwischen biologischen Geschlechtsmerkmalen und sozialer Geschlechterrolle / Vorstellung von weiblich + männlich gemeint ist, empfinde ich das als keine ‚extreme‘ Position. Es wird nicht pauschal abgestritten, dass es biologische Merkmale gibt, nur wird die Annahme in Frage gestellt, dass unsere gesellschaftliche Vorstellung von ‚Männlich‘ und ‚Weiblich‘ (mit allen damit verbundenen Inhalten) sich auf direkte und umfassende Weise aus diesen biologischen Merkmalen ableiten soll.

      Nachtrag: Konkrete Beispiele für Biologismen findest du gut auf Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Biologismus

  7. Stephan Fleischhauer schreibt:

    Wenn man Äußerungen über den Weg läuft wie „Frauen können nicht so gut denken, weil ihre Gehirne kleiner sind, und müssen daher nicht das gleiche Maß an Mündigkeit haben“, heißt das nicht zwangsläufig, dass dass ein ernstgemeinter Standpunkt ist. In feministischen Foren gibt es in der Hitze des Gefechts sicher auch viele unbedachte Äußerungen. Ich würde aber vorsichtig damit sein, bei jedem „Rant“ biologistische Standpunkte zu unterstellen. Mir geht es darum, ob solche Standpunkte in relevantem Ausmaß und wirklich ernsthaft vertreten werden.

    Das mit dem „extremen Gegepol“ bezog ich auf Christian. Ich kenne keinen Blogger, der die evolutionstheoretischen Erklärungsmodelle so konsequent – und durchaus offensiv – vertritt. Trotzdem ist er kein Biologist.

    • endolex schreibt:

      Mir geht es darum, ob solche Standpunkte in relevantem Ausmaß und wirklich ernsthaft vertreten werden.

      Da sie ja schon einmal im großen Umfang und ernsthaft vertreten *wurden*, um gesellschaftliche Ungleichheit zu legitimieren, ist das für mich Anlass genug, wachsam und kritisch zu bleiben.

      Das mit dem “extremen Gegepol” bezog ich auf Christian. Ich kenne keinen Blogger, der die evolutionstheoretischen Erklärungsmodelle so konsequent – und durchaus offensiv – vertritt. Trotzdem ist er kein Biologist.

      Kann nur wiederholen: Ich finde, er verwendet biologistische Argumentationsweisen, um gesellschaftliche Bewegungen, die auf Gleichstellung abzielen (und dabei seiner Ansicht nach versuchen, biologische Gegebenheiten komplett auszublenden), zu kritisieren. Daraus folgt natürlich nicht zwangsläufig, dass er gesellschaftliche Effekte absolut ausschließt, also radikalen Biologismus vertritt.
      Aber ich denke mal, am besten kann sich Christian selbst dazu äußern, wenn er möchte. 🙂

      • Stephan Fleischhauer schreibt:

        Nee, nee, das kann ich besser, pass mal auf: Christian kritisiert nicht grundsätzlich feministische Bewegungen, die auf Gleichstellung abzielen. Er nennt sich selbst manchmal einen Befürworter des Equity Feminism.

      • Stephan Fleischhauer schreibt:

        Da sie ja schon einmal im großen Umfang und ernsthaft vertreten *wurden*, um gesellschaftliche Ungleichheit zu legitimieren, ist das für mich Anlass genug, wachsam und kritisch zu bleiben.

        Ist wohl der gleiche Grund, warum die Linke vom Verfassungsschutz beobachtet wird.
        🙂

  8. Stephan Fleischhauer schreibt:

    Nochmal Nachfragen zu einigen Aussagen von dir. Oben antwortetest du auf meine Frage:

    Warum also sollte sich ein lang andauerndes Liebesleben nicht biologisch begründen lassen? Ist ebenso eine Form von Verhalten, das genetisch bedingt sein kann, nicht anders als der Begattungsakt.

    mit

    Biologische Faktoren – in gewissem Umfang kein Problem. Vorstellen könnte ich mir da beispielsweise die Frage nach dem Kinderwunsch und der Zeugungsfähigkeit

    Mir ist noch nicht klar geworden, wie weitgehend du biologische Einfussnahme für möglich hältst. Mit dem „andauernden Liebesleben“ meinte ich eigentlich mehr als nur Kinderwunsch. Z.B. auch die besondere Intimität und Verbundenheit zwischen Liebespaaren. Würdest du da biologische Ursachen ausschließen, es sei denn, es geht explizit um den Zeugungswillen?

    In Joachims Blog meintest du:

    Ich kenne niemanden, für den Tabula Rasa eine ‘ideologische Grundüberzeugung’ im Sinne ist, dass es NUR Kultur gebe und sonst nichts. Aber tabula rasa *muss* in Bezug auf Geschlechter als logische Default-Annahme gelten, solange keine konkrete (d.h. mehr als rein statistische) Belege dafür existieren, dass irgendein bestimmtes Verhalten *auf direktem Wege* geschlechterspezifisch zu nennen und als solches zu berücksichtigen ist.

    Was für Belege forderst du? Sind nicht alle Belege irgendwie statistisch? Selbst sozialwissenschaftliche?

    • endolex schreibt:

      Mir ist noch nicht klar geworden, wie weitgehend du biologische Einfussnahme für möglich hältst. Mit dem “andauernden Liebesleben” meinte ich eigentlich mehr als nur Kinderwunsch. Z.B. auch die besondere Intimität und Verbundenheit zwischen Liebespaaren. Würdest du da biologische Ursachen ausschließen, es sei denn, es geht explizit um den Zeugungswillen?

      Nö, würde ich nicht. Von völligem Ausschluss biologischer Faktoren redet ja eben niemand. Ich stimme auch Christian völlig zu, dass die Big Five (Persönlichkeitsmerkmale) durchaus genetische Ursachen haben können. Aber eben nicht *nur*. Eine lebendige Debatte darüber, *wie viel* jeweils biologisch oder sozial beeinflusst ist, halte ich auch für gar nicht verkehrt. Allerdings glaube ich hier wie gesagt nicht, dass eine einfache Formel dafür gefunden werden kann, noch, dass sich klar sagen lässt, welches Empfinden oder Verhalten nun genau auf Biologie oder Soziales zurückzuführen ist (also keine klar markierte Front). Und ich weiß echt nicht, wie oft ich das noch schreiben muss. 🙂

      Was für Belege forderst du? Sind nicht alle Belege irgendwie statistisch? Selbst sozialwissenschaftliche?

      Als eine ‚Legitimation‘ gesellschaftlich struktureller Ungleichbehandlung zwischen den Geschlechtern (bzw. als Legitimation einer Kritik an Bewegungen, welche dieser Ungleichbehandlung entgegenwirken) wäre für mich nur ein 100%iger experimenteller Beleg denkbar. Extreme Aussagen eben, wie „Alle Frauen / Männer sind auf grundsätzlich geschlechterspezifische Weise in ihren kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt, weswegen Sie auch grundsätzlich nicht in dem gleichen Maße die selben Aufgaben übernehmen sollten wie Männer / Frauen, weil sie sonst sich und andere gefährden.“ Wurde ja lange genug so behauptet, als irgendwann mal die Frage gestellt wurde, warum eigentlich Frauen so viel weniger dürfen als Männer.

      • Stephan Fleischhauer schreibt:

        Ich habe Zweifel, dass eine Forderung nach 100%igen Belegen die Diskussion weiterbringt.

        Aber du könntest hier mal Belege bringen:

        Ich stimme auch Christian völlig zu, dass die Big Five (Persönlichkeitsmerkmale) durchaus genetische Ursachen haben können. Aber eben nicht *nur*.
        Letzteres sagt niemand, wirkliche NIEMAND.
        Wenn du das belegen kannst, nehme ich das natürlich zurück.

        Wurde ja lange genug so behauptet
        Beleg?

        Sorry für das Doppelposting 😦

  9. Stephan Fleischhauer schreibt:

    Ich habe Zweifel, dass eine Forderung nach 100%igen Belegen die Diskussion weiterbringt.

    Aber du könntest hier mal Belege bringen:

    Ich stimme auch Christian völlig zu, dass die Big Five (Persönlichkeitsmerkmale) durchaus genetische Ursachen haben können. Aber eben nicht *nur*.

    Letzteres sagt imho niemand, wirklich NIEMAND. Ich meine das so, wie ich es sage.
    Wenn du das belegen kannst, nehme ich das natürlich zurück.

    Wurde ja lange genug so behauptet
    Beleg?

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